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Verlorene Muttersprache nach Schlaganfall

Elisa Miebach
15. August 2019

Nach einem Schlaganfall kann vieles passieren. Es gibt Menschen, die danach mit ausländischem Akzent sprechen, oder sogar nicht mehr ihre Muttersprache, sondern nur noch eine Fremdsprache. Wie kann das sein?

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Schlaganfall
Was kann mit unserem Sprachzentrum nach einem Schlaganfall passieren?

Die Chinesin Liu Jiayu spricht nach einem Schlaganfall plötzlich nur noch Englisch. Die Frau aus der chinesischen Hunan Provinz antwortet auf die chinesische Frage nach ihrem Alter: "Ninety-four" [94] Sie hatte lange Englisch unterrichtet.

Ein Engländer spricht nach einem Schlaganfall plötzlich nur noch walisisch, obwohl er seit 70 Jahren nicht mehr in Wales war. Und eine Deutsche aus Thüringen spricht nach ihrem Schlaganfall plötzlich Schweizerdeutsch, ohne, dass sie jemals in der Schweiz war. Es gibt noch mehr Fälle, in denen Menschen nach einem Schlaganfall plötzlich mit ausländischem Akzent oder sogar nur noch in einer Fremdsprache redeten.

Mehr zu Schlaganfall: Wenn einen der Schlag trifft

So kann sich unsere Sprache nach einem Schlaganfall ändern

Diese Fälle sind selten, aber es gibt eine Erklärung, sagt Anja Lowit, die vor dreißig Jahren aus Deutschland nach Großbritannien auswanderte, um dort zu Linguistik und Sprachtherapie zu forschen. Sie beschäftigt sich auch mit Veränderungen der Sprache nach Schlaganfällen.

Die oben beschriebenen Fälle kann man in zwei Kategorien aufteilen. Wenn Menschen nach dem Schlaganfall nur noch eine Fremdsprache sprechen, ist das eine Form von bilingualer Aphasie. Wenn sie mit einem scheinbar ausländischen Akzent sprechen, nennt man das das "Foreign Accent Syndrome" (Fremder-Akzent-Syndrom).

Ein Schlaganfall entsteht, wenn eine bestimmte Hirnregion nicht mehr durchblutet wird. Sprachveränderungen müssen aber nicht unbedingt nur nach einem Schlaganfall auftreten. Ein amerikanischer Schüler hat nach einer Kopfverletzung bei einem Football-Spiel und einem kurzen Koma etwa erst einmal nur noch Spanisch gesprochen. 

Lowit erzählt vom Fall einer Britin, die nach einer starken Migräne mit scheinbar französischem Akzent sprach, oder auch von einem anderen Patienten, der nach einer Impfung und einer einwöchigen Krankheit mit fremdem Akzent sprach. 

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Plötzlich ein fremder Akzent

Das Foreign Accent Syndrome ist eine Mischung verschiedener Sprach- und Sprechstörungen und ist bei jedem Patienten anders ausgeprägt. Die genannte Britin hatte sich nicht wirklich einen französischen Akzent abgeguckt. Ihre andere Betonung und Aussprache und möglicherweise auch grammatikalische Fehler in Folge ihres Schlaganfalls klangen einfach in den Ohren von Briten wie ein französischer Akzent.

Im englischen Wort "garage" etwa sprach sie das "ge" hinten weich aus, wie im Französischen, und betonte die zweite Silbe mit einem langen a. So wurde aus dem englischen garage mit der Betonung auf der ersten Silbe ein französisch klingendes "garage".

Die Betroffenen können einfach bestimmte Laute nicht mehr so gut bilden oder suchen nach Wörtern und richtigen Betonungen. Die Zuschreibung des ausländischen Akzents passiert durch das Umfeld, erklärt Lowit.

Die Unebenheiten in der Sprache klingen in den Ohren der Leute dann vielleicht nach einem russischen oder chinesischen Akzent. Wenn man unterschiedliche Menschen fragt, werden dem Patienten vielleicht auch unterschiedliche Akzente zugeschrieben.

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Fremdsprache statt Muttersprache

Aber was ist, wenn man nicht nur mit einem ausländisch klingenden Akzent spricht, sondern sogar ganz in einer anderen Sprache? In diesem Fall der bilingualen Aphasie muss die Sprache vorher gelernt worden sein, sagt Lowit. Es gibt dabei unterschiedliche Formen. 

Die meisten Menschen können noch alle vorhandenen Sprachen sprechen, wobei alle unterschiedlich stark beeinträchtigt sein können. In seltenen Fällen können die Schlaganfall-Patienten nur noch die Muttersprache, aber die Fremdsprache nicht mehr. Manche Leute können nur noch die Fremdsprache, aber ihre Muttersprache vorerst nicht.

In ganz seltenen Fällen können Patienten an einem Tag sogar nur die eine Sprache sprechen - und am nächsten nur die andere. Wenn man eine Sprache nicht mehr sprechen kann, heißt dies aber nicht zwangsläufig, dass man sie auch nicht mehr verstehen kann. 

Wir können uns unser Gehirn wie einen Schrank vorstellen, in dem unterschiedliche Sachen liegen, sagt Lowit. Es gibt im Schrank einen Bereich für die Socken, wie es im Gehirn einen Bereich für die Sprache gibt.

Die Ansicht, dass Fremdsprache und Muttersprache in komplett anderen Gehirnregionen liegen, ist veraltet, sagt sie. Doch man kann es sich so vorstellen, als seien die Socken nach Farben sortiert. Eine Farbe stehe für eine Sprache.

Montags Englisch, dienstags Deutsch

Forscher versuchen schon seit langer Zeit diese verschiedenen Störungsbilder zu erklären. Vereinfacht gesagt, kann man sich vorstellen, dass das Gehirn nach einem Schlaganfall nicht mehr genügend Energie hat, um alle vorherigen Verbindungen gleichzeitig und gleich schnell aufzubauen. Und je nachdem welche Impulse das Gehirn bekommt, ist es dann vielleicht einfacher, nur eine Sprache zu sprechen.

Wenn ein bilingualer Mensch nach einem Schlaganfall an Aphasie leidet, könnte man die Theorie aufstellen, dass das Gehirn eher Verbindungen zu ihrer Muttersprache aufbauen könnte, weil sie diese zuerst gelernt habe. 

Eine andere Theorie wäre, dass es einfacher wäre, die zweite Sprache, zu erreichen, weil diese in den vergangenen Jahren viel häufiger gesprochen wurde. Es könnte aber auch nach einem Schlaganfall dazu kommen, dass montags durch eine Person, ein Bild, einen Gedanken eher die Zweitsprache stimuliert wird und das Gehirn an dem Tag dabei bleibt, aber an einem anderen Tag die Muttersprache aktiviert wird.

Nach dem Schlaganfall - wie geht es weiter?

Wird das wieder besser?

In den meisten Fälle von bilingualer Aphasie, kommen beide Sprachen wieder. Nach einem Schlaganfall sind zwar bestimmte Hirnregionen tot, doch je nach Alter, kann das Gehirn andere Areale dazu benutzen, die Aufgaben der toten Region mit zu übernehmen. Unterstützt werden sollte dies am besten durch eine Therapie, sagt Lowit. 

Vor allem auch beim Foreign Accent Syndrome, sei es wichtig, in der Therapie mehrere Spezialisten aufzusuchen. Gerade eine psychologische Therapie kann wichtig sein, weil mit dem Verlust der eigenen Art zu sprechen oft auch eine Identitätskrise einhergeht. Die besten Therapiearten werden noch erforscht, es sei aber schwierig, weil die Fälle relativ selten seien.

Sprachstörungen im Alter könnten nicht nur bei einem Schlaganfall, sondern auch bei bestimmten Formen der Demenz auftreten, sodass das Finden von Wörtern, die Grammatik oder die Aussprache beeinträchtigt werden. Der Unterschied ist, dass beim Schlaganfall der Verlust erst sehr drastisch ist und es dann bergauf geht.

Bei der Demenz geht es oft schleichend bergab. In jedem Fall, sei es wichtig, einen oder mehrere Spezialisten aufzusuchen, die sich mit dem Thema auskennen, so Lowit.

Mehr dazu: Auf Schlaganfall folgt oft Demenz