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'Schlimmer als Gefängnis'

13. April 2010

Andauernde Prügel, systematische Demütigung und immer wieder sexuelle Übergriffe. Gewalt an Kindern und Jugendlichen hat es auch in Heimen der ehemaligen DDR gegeben - zum Beispiel in Torgau.

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Bilder von Jugendlichen in der Gedenkstätte des ehemaligen Geschlossenen Jugendwerkhofs Torgau (Foto: DPA)
Bild: picture alliance / dpa

Die Gesichter schauen traurig von innen durch die Fenster des gelben dreistöckigen Gebäudes. Es sind alte Fotos, überlebensgroß und schwarz-weiß, von innen an die Scheiben geklebt. Noch vor 20 Jahren waren diese Fenster vergittert, eine meterhohe Mauer umgab das Gelände. Die Jungen und Mädchen, deren Gesichter den Besucher schon von weitem ansehen, waren Insassen im geschlossenen Jugendwerkhof Torgau - einem sogenannten Heim für schwer erziehbare Jugendliche in der ehemaligen DDR.

Hinter den dicken Mauern ging es damals zu wie in einem Gefängnis. "Schlimmer noch", sagt Gabriele Beyler, die Leiterin der Gedenkstätte Jugendwerkhof Torgau. "Mit einer Schocktherapie sollte bei den Jugendlichen Erziehungsbereitschaft hergestellt werden. Hier sollte ihnen klar gemacht werden: Ab jetzt geht es so nicht mehr weiter und wenn du nicht willst, dann wirst du schon merken, was dabei raus kommt."

Das Gebäude des ehemaligen Jugendwerkhofes in Torgau (Foto: DPA)
Die Gedenkstätte des geschlossenen Jugendwerkhofes in TorgauBild: DW

Beyler steht seit Jahren in Kontakt mit ehemaligen Insassen. Seit immer häufiger Berichte über sexuellen Missbrauch von Kindern in westdeutschen katholischen und Reformschulen in den Medien auftauchen, melden sich auch Missbrauchsopfer des DDR-Systems bei ihr. "Die Betroffenen berichten immer von psychischer und physischer Gewalt, die in DDR-Heimen auf der Tagesordnung stand. Neu hinzugekommen ist jetzt aber der Aspekt von sexuellen Misshandlungen und Missbrauch."

Die Täter blieben unbehelligt

Als "Um-Erziehungsheim" war der Jugendwerkhof kein Gefängnis für Kriminelle, sondern dem Ministerium für Volksbildung unterstellt. Die zuständige Ministerin hieß Margot Honecker. In Stasi-Unterlagen tauchten schon damals immer wieder Hinweise über systematische Misshandlungen an Kindern und Jugendlichen in Torgau auf. Die Berichte beweisen, dass man im Ministerium von den Missständen gewusst hat. Dem damaligen Direktor des Jugendwerkhofes werfen Zeugen heute schwere sexuelle Übergriffe an den Jugendlichen vor, bis hin zur Mehrfach-Vergewaltigung. In 25 Jahren Dienstzeit in Torgau wurde er nie angezeigt, mittlerweile ist der Mann tot. Insassen und Angestellte mussten damals eine Verschwiegenheitserklärung unterschreiben.

Eines seiner Opfer ist Heidemarie Puls. Zwei bis drei Mal pro Woche wurde die damals 16-Jährige von ihrem Erzieher nachts herausgerufen. Dann belästigte und vergewaltigte er sie, berichtete sie in einem TV-Interview mit dem ZDF. Anschließend schlug er sie, "damit die anderen wegen der Schreie glaubten, ich werde bestraft, weil ich irgendwelche Regeln gebrochen hätte".

"Ein Zölibat hat es schließlich nicht gegeben"

Gabriele Beyler, Leiterin der Gedenkstätte Jugendwerkhof Torgau (Foto: DPA)
Gabriele Beyler, Leiterin der Gedenkstätte Jugendwerkhof TorgauBild: picture alliance / ZB

Ihre Geschichte hat Puls in einem Buch veröffentlicht. Wie den meisten Opfern geht es ihr nicht um die Bestrafung der Täter. Die Fälle sind oft längst verjährt, nur schwer zu beweisen - die meisten Täter sind mittlerweile tot. Auch eine Entschädigung, sagt Beyler, wollen die meisten Betroffenen nicht. "Ich glaube, heute geht es den Betroffenen um eine persönliche Aufklärung ihrer eigenen Erlebnisse in Kindheit und Jugend. Um endlich vernünftig damit umgehen zu können und einen Schlussstrich ziehen zu können."

Demütigungen und Missbrauch hat es auch in anderen Kinderheimen und Jugendwerkhöfen der DDR gegeben. Vielen Opfern werde erst heute klar, was sie als Kind erlebt haben, sagt Beyler. "Zum Beispiel die regelmäßigen Ganzkörperuntersuchungen an Jugendlichen durch Erzieher des anderen Geschlechts. Heute, da wir darüber eine öffentliche Diskussion führen, werden viele angeregt, über persönliche Erlebnisse noch einmal nachzudenken."

Ein Besucher steht vor der Line mit der Aufschrift "Ausziehen - hier" in einem Raum des ehemaligen Geschlossenen Jugendwerkhofes Torgau in der heutigen Gedenkstätte in Torgau (Foto: DPA)
Erinnerungen an Torgau: "Vielen Opfern wird erst heute klar, was sie als Kind erlebt haben"Bild: picture-alliance/ ZB

Manfred Kolbe ist Bundestagsabgeordneter der CDU - Torgau gehört zu seinem Wahlkreis. Sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen, sagt er, sei ein gesellschaftliches Problem, das man nicht nur in DDR-Kinderheimen oder innerhalb der katholischen Kirche suchen dürfe. "Wir brauchen eine gesamtdeutsche Aufarbeitung, es darf keine Opfer erster und zweiter Klasse geben. Nur eine breite Arbeit kommt da zu richtigen Ergebnissen. Am Zölibat allein kann es schließlich nicht liegen, denn das hat es in den Einrichtungen der DDR nicht gegeben."

Gesamtdeutsche Aufarbeitung heißt für Kolbe vor allem, dass auch Vertreter aus Torgau an den Runden Tisch der Regierung zur Aufarbeitung der Missbrauchsfälle geladen werden. Ein Brief mit der entsprechenden Bitte an Bundesfamilienministerin Kristina Schröder blieb bisher allerdings ohne Antwort.

"Ganz alleine, ohne Aufsicht, ohne Kontrolle"

Es sei schwierig, Vergleiche zu den Missbrauchsfällen in westdeutschen Schulen vor der Wiedervereinigung, sagt Gabriele Breyler. Dennoch gebe es Parallelen: "Es gibt Schutzbefohlene, also Kinder und Jugendliche, und die Erzieher unter einem Dach - ganz alleine, ohne Aufsicht, ohne Kontrolle. Das bietet einen idealen Nährboden für solche Misshandlungen und Missbrauchsgeschichten".

Neben der historischen Aufarbeitung des systematischen Missbrauchs soll es am Runden Tisch zur Aufarbeitung auch um die Zukunft gehen. Wie können solche Taten, ganz gleich unter welchen Umständen, verhindert werden? "Heimkindern muss klar gemacht werden: Sie sind an diesem Punkt nicht allein." Stattdessen müsse es Ansprechpartner und Vertrauenspersonen von außerhalb geben, empfiehlt Beyler. "Die Kinder müssen wissen, dass da jemand ist - dauerhaft, zu jeder Tages- und Nachtzeit. Jemand, an den man sich wenden kann, sobald Dinge passieren, die nicht normal sind."

Autor: Samuel Jackisch
Redaktion: Kay-Alexander Scholz