Was ist eine "schmutzige Bombe"?
25. Oktober 2022Vorerst sind sie nur Teil der Propagandaschlacht: Russlands Verteidigungsminister Sergej Schoigu hat die Ukraine bezichtigt, "schmutzige Bomben" einsetzen zu wollen. Kiew plane, einen solchen Angriff auszuführen, um ihn dann den russischen Streitkräften in die Schuhe zu schieben und die russische Führung zu diskreditieren. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj und mehrere westliche Regierungen haben diesen Vorwurf entschieden zurückgewiesen. Aus Kiewer Sicht ist es genau umgekehrt, gab Selenskyj zu verstehen: Offenbar hege Moskau selbst solche Pläne.
Als "schmutzige Bomben" werden konventionelle Waffen bezeichnet, die mit radioaktivem Material bestückt sind, wie es in der Strahlentherapie, beim Konservieren von Lebensmitteln oder zur Werkstoffprüfung in der Industrie unter kontrollierten Bedingungen verwendet wird.
"Schmutzige Bomben" sind keine Atombomben
"Das ist keine Atombombe", betont Wolfgang Richter, Oberst a.D. der Bundeswehr und Mitglied der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) im Gespräch mit der DW: "Das heißt, es werden keine nuklearen Kettenreaktionen ausgelöst, die dann ungeheure Sprengkräfte auslösen." Großflächig tödliche Hitze-, Druck- und Sogwellen sowie eine extrem gefährliche Neutronenstrahlung, die durch Wind und Regen in große Entfernungen getragen werden kann. All das gebe es bei Atomwaffen , nicht aber bei schmutzigen Bomben, so Richter.
Die unmittelbare Gefahr einer schmutzigen Bombe gehe also kaum über die der Sprengladung selbst hinaus, sagt der Forscher. Langfristig aber sei die Strahlung zumindest gesundheitsschädlich, abhängig von der Menge der Strahlung, die ein Mensch aufnimmt, auch tödlich. Je nach Größe der Explosion und Stärke der Radioaktivität könnten recht große Flächen dadurch für einen gewissen Zeitraum unbewohnbar werden.
Verdrängte Angst vor radioaktivem Terror
Schmutzige Bomben sind nicht neu. Bisher wurden sie allerdings vor allem als Terrorgefahr gehandelt. 2003 stellten Polizisten in Tiflis und in Bangkok kurz hintereinander zwei illegale Lieferungen mit radioaktivem Cäsium und Strontium sicher, die sich für den Bau beispielsweise einer schmutzigen Autobombe geeignet hätten.
Ein solcher Sprengsatz, schrieb der wissenschaftliche Mitarbeiter der SWP-Forschungsgruppe Sicherheitspolitik Gebhard Geiger damals, hätte in einem dicht besiedelten Gebiet eine großräumige Evakuierung und eine milliardenschwere Sanierung erforderlich gemacht.
Im September 2016 widmete sich der US-amerikanische Anwalt und Journalist Steven Brill dem Thema im Rahmen seiner Titel-Story "Is America any safer" zum 15. Jahrestags der 9/11-Anschläge im US-Politmagazin "The Atlantic". Demnach wurde allein in den Jahren 2013 und 2014 in 325 Fällen radioaktives Material als verloren oder gestohlen gemeldet - unentdeckte oder vertuschte Verluste also nicht eingerechnet. Der Politik wirft Brill vor, der Gefahr keine adäquate Beachtung zu schenken.
Psychologische Wirkung größer als die physische?
Ein Anschlag im Zentrum von Washington D.C. mit einer schmutzigen Bombe von der Art, wie sie Terroristen wahrscheinlich einsetzen würden, könnte Brills Recherchen nach 40 Häuserblocks radioaktiv verseuchen und Milliarden US-Dollar an Dekontaminierungskosten verschlingen.
Allerdings, ordnet Brill ein, würden Experteneinschätzungen zufolge - selbst ohne Evakuierungen - wohl kaum mehr als 50 Menschen an den Folgen der Strahlung sterben: "eine Opferzahl, die wahrscheinlich durch eine Anti-Tabak-Kampagne in ein oder zwei Washingtoner Bürogebäuden auszugleichen wäre", schreibt Brill. Die größte Gefahr eines solchen Terroranschlags könnte demnach die Panik sein, die er auslöst. Die Politik müsse die Bevölkerung daher aufklären, um der Bedrohung den Schrecken zu nehmen.
Radioaktive Bomben vergleichbar mit Reaktor-GAU von Tschernobyl
Eine schmutzige Bombe militärischer Bauart könnte allerdings ungleich größer ausfallen. "Man kann sich das etwa so vorstellen wie das Freisetzen einer Strahlung bei einem Unfall eines Kernkraftwerkes", sagt SWP-Forscher Richter. "Tschernobyl wäre hier das Beispiel." Im Atomkraftwerk Tschernobyl war 1986 einer der Reaktoren havariert. Seither besteht eine Sperrzone mit einem Radius von 30 Kilometern rund um den Unglücksort.
Allerdings hält der ehemalige Bundeswehr-Oberst es aus verschiedenen Gründen für eher unwahrscheinlich, dass Russland einen solchen Angriff selbst plant. Erstens würde das der Mobilmachung widersprechen: "Russland setzt damit ja auf die Intensivierung des Krieges mit konventionellen Mitteln."
Angriff mit schmutziger Bombe wäre "widersinnig"
Zweitens bestehe die Gefahr, dass Wind die radioaktive Strahlung in Richtung der eigenen Truppen weht. Drittens würde man damit Gebiete und Bevölkerungsteile langfristig kontaminieren, die der Kreml Russland zurechnet: "Deswegen halte ich den Einsatz einer solchen Bombe nicht nur für unverantwortlich, sondern auch für ziemlich widersinnig."
Die Eskalationsgefahr sieht Richter vor allem in den Spekulationen über den Einsatz von schmutzigen Bomben - und zwar auf beiden Seiten: "Auch die Ukraine hat schon von einem Präventivschlag gesprochen gegen einen möglichen Nukleareinsatz Russlands."