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Schwere Fälle, beschränkter Einfluss?

18. Februar 2010

Unfaire Gerichtsverfahren, Folter, Entführung - die Fälle, mit denen sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg befasst, wiegen oft schwer. Doch können seine Urteile wirklich etwas verändern?

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Renate Jaeger, Richterin im Ersten Senat des Bundesverfassungsgerichts (BVG) in Karlsruhe (Archivbild 2004: PA/dpa)
Die deutsche Richterin Renate JaegerBild: PA/dpa

Die erste Station der Beschwerden an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ist - die Poststelle. In diesem großen, lichtdurchfluteten Raum landen alle Schriftstücke, werden elektronisch registriert, mit Aktenzeichen versehen und an die juristischen Abteilungen versandt. 30.000 neue Beschwerden erreichen den Gerichtshof jedes Jahr, etwa 100.000 Fälle sind zurzeit anhängig. Die Mitarbeiter aus Aserbaidschan, der Ukraine, Polen, der Türkei, Moldawien, Serbien, Russland oder Frankreich bearbeiten Briefe in über 40 Sprachen.

Säule mit Briefen im Postamt des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg (Foto: DW/ Daphne Grathwohl)
Die hübschesten Briefumschläge schaffen es auf die Säule im PostamtBild: DW/ Daphne Grathwohl

Privatpersonen, nichtstaatliche Organisationen oder Staaten beschweren sich vor dem Gerichtshof in Straßburg, dass ihre in der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) festgeschriebenen Menschenrechte von einem Mitgliedsstaat des Europarats verletzt worden seien. Im Europarat haben sich mittlerweile 47 europäische Staaten zusammengeschlossen, um - auch in gemeinsamen Abkommen wie der Menschenrechtskonvention - europäische Grundsätze sowie den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt Europas zu fördern.

Beschwerden in Gedichtform

Wenn eine Menschenrechtsbeschwerde zulässig ist, muss das Verfahren entweder auf Englisch oder Französisch fortgeführt werden. Hayati Turun kommt aus der Türkei; er bearbeitet aber keineswegs nur die türkischen Eingänge, sagt er augenzwinkernd. Auf seinem Tisch landet alles Mögliche. Zu den amüsantesten Einsendungen gehören die Gedichte eines Deutschen. Er war mit seiner Beschwerde gescheitert. Doch er schreibt immer noch seine Gedichte - jeden Tag, sagt Hayati Turun. In einem Regal in der Poststelle findet man das Skurrilitätenkabinett: Einsendungen und Geschenke von Beschwerdeführern - von der Zigarettenschachtel bis zur Kapitänsmütze. Und auch Drohbriefe erreichen die Poststelle. Denn nicht immer stößt der Gerichtshof auf Zustimmung, wenn er einen der 47 Europarats-Mitgliedsstaaten, die die Europäische Menschenrechtskonvention ratifiziert haben, verurteilt.

Ein Grundproblem des Gerichtshofs: In den Urteilen müssen die 47 Richter eine Linie finden, die alle 47 Mitgliedsstaaten mit ihren unterschiedlichen Rechtsordnungen mittragen können. Renate Jaeger, die deutsche Richterin, hält dies für die schwierigste Aufgabe des Gerichtshofes. In keiner Entscheidung seien ja wirklich alle 47 Richter beteiligt sind, sondern - in der Großen Kammer - maximal 17 von ihnen, erklärt die Richterin.

Entscheidungen für ganz Europa

Der Gerichtssaal im Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (Foto: DW/ Daphne Grathwohl)
Voller GerichtssaalBild: DW/ Daphne Grathwohl

Und wenn die Entscheidung sehr umstritten ist, reicht eine Mehrheit von neun Richtern. "Diese neun müssen sich aber kraft der Verantwortung, die sie tragen, bewusst machen, dass ihre Entscheidung in Europa akzeptiert werden muss," so Jaeger. Nur etwa 30 Mal im Jahr entscheidet diese Große Kammer; bei ihren Anhörungen herrscht immer großer Andrang im Gericht.

Die Richter müssen sich in kurzer Zeit die Rechtsordnungen der anderen Mitgliedsländer einarbeiten, erklärt Renate Jaeger. Hier spielt der nationale Richter eine maßgebliche Rolle. Er ist in allen Fällen beteiligt, die sein Land betreffen. Er muss den anderen Kollegen die Rechtsordnung seines Landes verständlich machen - wenn auch unterstützt von einer Research-Abteilung, erklärt Jaeger.

Aber der "Mund" des Rechts, so die deutsche Juristin, ist eben der nationale Richter. Jaeger gibt zu, sie habe zu Beginn ihrer Amtszeit befürchtet, ein nationaler Richter könnte bei Fällen aus seinem Heimatland schnell befangen sein. Doch die Erfahrung hat sie gelehrt: Davor schützt die Zusammenarbeit mit den Kollegen in diesem internationalen Gremium und deren kritischer Blick. Gewählt wird der nationale Richter von der Parlamentarischen Versammlung des Europarats, und zwar aus einer Liste von drei Richtern, die das jeweilige Mitgliedsland einreicht.

Rund 95 Prozent der Fälle werden schon aus formalen Gründen als unzulässig zurückgewiesen. Dann hat der Beschwerdeführer womöglich Fristen verpasst oder ist im Heimatland nicht durch alle Instanzen gegangen. Die übrigen Fälle werden in den Kammern von jeweils sieben Richtern entschieden. Manche Staaten haben einen gewaltigen Rückstau an Fällen: Gegen Russland zum Beispiel liegen noch etwa 30.000 Beschwerden vor. Doch da an jedem Verfahren der nationale Richter beteiligt sein muss, dauert es bei russischen Fällen besonders lange, sie alle abzuarbeiten. Um die Arbeit des Gerichtshofs zu beschleunigen, sollte das Verfahren reformiert werden. Doch Russland blockiert seit Jahren diese Bestrebungen. So konnte bislang nur ein Teil der Reform in Kraft treten.

Politischer Druck statt traditioneller Strafvollstreckung

Regal mit skurrilen Briefen im Postamt des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (Foto: DW/ Daphne Grathwohl)
In der Poststelle werden die skurrilsten Einsendungen gesammeltBild: DW/ Daphne Grathwohl

Wenn der Gerichtshof eine Menschenrechtsverletzung feststellt, verurteilt er den betreffenden Staat: Er kann zum Beispiel Schadensersatz, eine Gesetzesänderung oder gar die Freilassung von Gefangenen fordern. Die Umsetzung vollstreckt keine Behörde, sondern ein politisches Gremium - nämlich das Ministerkomitee des Europarates, in dem die Staaten durch ihre Außenminister vertreten sind. Laut Europäischer Menschenrechtskonvention sind die Staaten verpflichtet die Urteile umzusetzen.

Aber was umsetzen heißt, ist eine Frage, die im Prinzip den Staaten überlassen ist, erklärt der Jurist Axel Müller-Elschner. Der politische Druck, wegen einer Menschenrechtsverletzung am Pranger zu stehen, wiege oftmals schwerer als herkömmliche Vollstreckungsmaßnahmen - davon sind die Juristen am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte überzeugt.

Autor: Daphne Grathwohl
Redaktion: Nicole Scherschun