Schäuble: "Es geht um Fairness"
24. Oktober 2017Am Dienstag um 11 Uhr begann im Deutschen Bundestag eine neue Zeitrechnung. Der Gong ertönt, die Sitzung beginnt. Und bald wird klar: Jetzt herrscht hier im Deutschen Parlament eine andere Tonlage. Bernd Baumann, Redner der AfD-Fraktion, kritisiert die Änderung der Besetzungspraxis für das prestigeträchtige Amt des Alterspräsidenten. Der alte Bundestag habe die Regeln bewusst zum Nachteil möglicher AfD-Kandidaten verändert. Statt des ältesten Parlamentariers eröffnet nun der dienstälteste Abgeordnete die Sitzung. "Das war ein durchsichtiges Manöver, dass wir ihnen nicht durchgehen lassen", poltert Baumann. Und er zieht Vergleiche, wie 1933 Hermann Göring, im Nazi-Regime Oberbefehlshaber der Luftwaffe, ähnliche Tricks benutzt habe. Ein liberaler Abgeordneter wird später einen solchen Vergleich mit einem Nazi-Täter als "Geschmacklosigkeit" verurteilen. Aus den Reihen der SPD-Abgeordneten kommen Zwischenrufe: "Opferrolle". Auf den Besucherrängen gibt es allerdings auch Verständnis für die AfD. Schließlich habe der alte Bundestag bewusst umgehen wollen, dass ein AfD-Mitglied im Mittelpunkt stehe, heißt es mehrfach.
Die Wahl des Alterspräsidenten - und die Sache mit der Opferrolle
Der Antrag der AfD wird abgelehnt. Fünf Fraktionen gegen eine: Dieses Abstimmungsverhalten prägt diese Sitzung und könnte auch die Arbeit der kommenden vier Jahre prägen. Dem FDP-Urgestein Hermann Otto Solms fällt damit mit seinen 33 Dienstjahren die Rolle des Auftaktgebers zu. "Ist jemand unter Ihnen, der dem Bundestag länger angehört?" Die rhetorische Frage von Hermann Otto Solms heitert die Stimmung für wenige Sekunden auf. Danach dominieren wieder misstrauische Blicke das Plenum, in dem jetzt 709 Abgeordnete sitzen. So viele wie nie.
Solms lobt den ausgeschiedenen Bundestagspräsidenten Norbert Lammert (CDU) auf der Tribüne. Langanhaltender Applaus, in dem ein wenig Wehmut mitzuschwingen scheint. Lammert sitzt still, höflich und sehr nachdenklich da. Und er beobachtet, wie der FDP-Mann den Bundestag auffordert, einander mit Respekt zu begegnen. Hass und Hetze der sozialen Medien hätten hier keinen Platz. Kontroverse Debatte, nach fairen Regeln, allerdings schon. "Wir alle haben das gleiche Mandat, haben die gleichen Rechte, aber auch die gleichen Pflichten", sagt Solms und dreht sich unbewusst zu den Neulingen von der AfD, die auch in der Runde des Parlaments rechtsaußen sitzen.
Bundestagspräsident Schäuble: Deutschland sucht den Zeremonienmeister
Dann beginnt die Abstimmung, ob Wolfgang Schäuble der nächste Bundestagspräsident werden kann. Die Namen werden einzeln vorgelesen. Es bilden sich lange Reihen vor zwei durchsichtigen Glasboxen. Gelbe Stimmkärtchen werden darin versenkt. Sehr viele Doktortitel werden namentlich aufgerufen. Auch Dr. Angela Merkel, die Bundeskanzlerin, die mit diesem Tag nur noch geschäftsführend im Amt ist, steht in der Schlange. Im Lager der AfD studieren auffällig viele Abgeordnete das Heft, in dem Namen und Bilder der neuen Parlamentarier dargestellt werden. An anderer Stelle im Plenum zeigen sich neue politische Wirklichkeiten - auch im Small Talk. Die konservative Kanzlerin scherzt mit der grünen Ex-Landwirtschaftsministerin. Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter übt sich im angeregten Gespräch mit seinem CDU/CSU-Kollegen Volker Kauder. Und FDP-Abgeordnete tänzeln zwischen verschiedenen Fraktionen hin und her.
Bei der Linkspartei und der SPD scheint die Sprachlosigkeit der vergangenen Jahre überwunden. Auch hier bisweilen freundschaftliches Plaudern. Nur die AfD-Abgeordneten bleiben unter sich. Dann ertönt der Gong: Wolfgang Schäuble erhält über 500 der 709 möglichen Stimmen, ist damit als neuer Bundestagspräsident gewählt. "Ich nehme die Wahl an", sagt er mit einem verschmitzten Lächeln auf den Lippen. Und vor ihm bildet sich eine lange Reihe. Alle Fraktionen haben einen Blumenstrauß dabei. Selbst die Linkspartei bietet dem früher oft beschimpften Finanzminister ein rot-orangefarbenes Bukett. Die AfD-Spitze reiht sich dagegen ohne grünen Gruß ein. Alexander Gauland salutiert vor Schäuble in preußischer Offiziersmanier, hebt und senkt den Kopf zur Respektsbekundung und geht ab.
Dann übernimmt der frisch gewählte Bundestagspräsident Schäuble das Mikrofon. Er wirkt geradezu gelöst, als er mit dem Rollstuhl die Rampe hinauf zum Sprecherpult des Präsidenten fährt. Schäuble findet spürbar Gefallen an seiner neuen Rolle, witzelt vom Präsidentenplatz herunter, winkt, schüttelt Hände und unterhält sich angeregt mit seiner Kollegin neben ihm. Sein erstes Wort am Pult ist nicht zu hören. "Muss ich selber das Mikrofon andrücken?", fragt er und erntet Lacher. Danach wird es ernst. Die Wahl habe gezeigt, wie viel Trennendes, wie viel Spaltendes die Politik jetzt bestimme. "Aber auch 1972, als ich in den Bundestag gekommen bin, gab es eine spannungsvolle Atmosphäre", sagt Schäuble. Er klingt gelassen - und bestimmt zugleich. In der veränderten Zusammensetzung habe der Bundestag jetzt die Chance, ein "Ort der Bündelung", ein "Ort der zivilisierten Debatte" zu sein. Prügeln sollte man sich hier nicht. Auch nicht verbal, fordert Schäuble mit seinem ihm eigenen Humor. "Es geht um Fairness", fordert er. Und besonders laut klatschen, viele wundern sich, die Abgeordneten der AfD-Fraktion. "Ich freue mich auf die gemeinsame Arbeit", ruft Schäuble allen Parlamentariern zu. Alle klatschen, mit Ausnahme der AfD.
Vor dem Plenum steht ein Teenager, zusammen mit einem älteren Herrn im Anzug. Sie unterhalten sich angeregt über Europa und die Freiheiten, die es für die junge Generation gebracht hat. Grenzen seien jetzt weg, sagt der Jüngere. Auch in den Köpfen, betont er, um sich dann gleich wieder zu korrigieren. "Jetzt kommen die Grenzen ja wieder zurück". Nur zwei Schritte entfernt gönnt sich AfD-Chef Jörg Meuthen einen Kaffee. Ein anderer Journalist schleicht sich an Meuthen heran. Die einzige Frage, die ihm einfällt, lautet: "Wie zufrieden sind sie, Herr Meuthen?" Der beginnt bereitwillig aufzuzählen, welche Stoppschilder seine Partei im Bundestag aufstellen wolle. Nur gut, dass der junge Mann mit dem Europa-Faible da gerade nicht zuhört.
Drei Wahlgänge - und trotzdem kein AfD-Stellvertreter
Dann folgt Tagesordnungspunkt 6. Die mit Spannung erwartete Wahl der Stellvertreter Schäubles. Die AfD hatte mit ihrem Mitglied Albrecht Glaser einen Mann aufgestellt, der mit sehr islamkritischen Äußerungen aufgefallen war. Entsprechend wurde diese Personalie zum Zankapfel. Während die anderen fünf Stellvertreter Schäubles im ersten Wahlgang gewählt wurden, fiel der AfD-Kandidat auch im dritten Wahlgang durch.
Viele Pausen zwischen den Wahlgängen begleiten dieses Ritual. Viel Zeit, über die Zeitenwende im Parlament zu debattieren. Ein orthodoxer Geistlicher und drei Parlamentarier stehen dazu vor der Glasfront des Parlamentssaals beieinander. Angeregt, freundlich tauschen sie sich aus. Man hört heraus: alle vier machen sich Sorgen, um das Bild, was mit dem Einzug der AfD ins Parlament im Ausland entstehen könnte. Ein Parlamentarier lobt Schäubles ersten Auftritt und verweist auch auf das, was ihm von diesem Tag in Erinnerung bleibt. Da saß ein gut gelaunter Wolfgang Schäuble, umgeben von zwei Schriftführern auf dem Präsidiumsplatz. Rechts von ihm eine junge Frau, links von ihm ein Parlamentarier mit afrikanischem Migrationshintergrund. In der Mitte, der erfahrenste Parlamentarier Deutschlands. Einer der vier sagt dazu: "Solche Bilder, von Vielfalt und nicht Einfalt, sollten um die Welt gehen." Er erntet zustimmendes Nicken, auch vom Geistlichen.