Sechs Monate für die Zukunft
11. Dezember 2009Hoch über die Ebene ragt der Tempel von Ramtek empor. Doreen Grüttner besucht ihn zusammen mit einem Kollegen aus der indischen Entwicklungsorganisation, Ecumenical Sangam. Einer der seltenen Ausflüge außerhalb der Arbeit. Der Kollege ist Hindu, aber Doreen Grüttner bewegt sich in dem Tempel genau so selbstverständlich und vertraut wie er. „Ich habe hier in Indien einige Hindu-Freunde und Freundinnen, mit denen ich auch des öfteren Tempel besucht habe. Und daher ist mir die übliche Routine schon vertraut“ Die spirituellen Handlungen fesseln sie immer noch.
Keine rosarote Brille
Als ein Priester ihr die Geschichte des Tempels erzählt, kann die 29-Jährige das mühelos verstehen, denn sie hat in ihrer Zeit als Freiwillige Hindi gelernt. Ohne Hindi hätte Doreen Grüttner ihre Aufgabe als Freiwillige gar nicht erfüllen können: In die Dörfer zu fahren, um mit Bauern zu sprechen. Zum Beispiel über Bewässerungstechniken, die das Grundwasser schonen. Ihre Arbeit nimmt Doreen Grüttner ernst, aber sie sieht sie beileibe nicht nur rosarot. Ihre Aufgaben etwa seien vor allem am Anfang viel zu unklar gewesen. Sie lächelt: Das lasse sich ja auch als Freiheit nutzen. „Ich habe diese Freiheit genutzt, um zu experimentieren, was kann ich machen, weil hier ja vieles doch auch anders funktioniert. Und ich habe einfach probiert und aus Fehlschlägen gelernt.“
Keine Autobahnbrücke
So schuf sie sich ihren Arbeitsbereich quasi selbst, entwickelte Fragebögen, um die Lage der Bauern besser zu erfassen. Cyril Khisty vom Vorstand der Entwicklungs-Organisation lobt diese Bereitschaft, immer etwas dazu zu lernen ebenso wie Doreens Herzlichkeit: „Wenn sie etwas lernen kann, dann geht sie es an. Sie ist freundlich, warmherzig und stets wissbegierig.“
Zuhören, hinschauen, das ist Doreen Grüttner wichtig. Brücken bauen zwischen Kulturen und Menschen wollte sie. Nach fast einem halben Jahr in Indien stellt sich die Frage: wie gut hat das geklappt? „Ich würde nicht denken, dass ich es geschafft habe, eine Autobahnbrücke zu bauen (lacht). Ich glaube, es gibt zumindest kleine Stege, die ich gebaut habe mit einzelnen Menschen.“
Einmal Indien, immer Indien
Mitte Januar wird Doreen Grüttner die Stafette weitergeben an den nächsten Freiwilligen. Und was nimmt sie mit von einem halben Jahr Entwicklungsarbeit im Herzen Indiens? Eine ganze Menge, sagt sie: „Beruflich hat es mir einen tiefen Blick in praktische Entwicklungszusammenarbeit gegeben. Und ich denke, es hat mir mehr Berufserfahrung gegeben. So dass ich, wenn ich immer noch in dem Bereich beruflich tätig sein wollen würde, bessere Chancen hätte auf eine richtige Stelle.
Vielleicht klappt es ja mit einer Doktorarbeit gerade zu ihrem Thema im Entwicklungsdienst. Die praktischen Erfahrungen dafür bringt sie mit, die Sprachkenntnisse auch. Und die Faszination für Indien. Ich denke nicht, dass ich Indien für immer hinter mir lassen kann. Ja, man könnte fast sagen, Indien ist das Land der unbegrenzten Unglaublichkeiten, und ich glaube fast, ich werde so lange immer wieder nach Indien zurück kommen, bis ich verstanden habe, warum die Dinge so sind, wie ich sie unglaublich finde, zum Teil.“ Gut möglich also, dass Doreen Grüttners Weg sie eines Tages zurück nach Nagpur führt. Und vielleicht geht sie dann wieder hinauf zu dem Tempel, weil es auch dort noch so viel zu erfahren gibt.
Autor: Mark Kleber
Redaktion: Birgit Görtz