Shoa und Kolonialverbrechen: wie geht gemeinsames Gedenken?
5. Oktober 2022Es ist ein zähes Tauziehen. Seit 2015 ringen Deutschland und Namibia um eine Aufarbeitung des Völkermords, den das Deutsche Reich als Kolonialmacht Anfang des 20. Jahrhunderts an Herero und Nama im damaligen Südwestafrika begangen hat. Zehntausende starben, wurden erschossen oder verdursteten qualvoll in der Wüste. In Namibias Hauptstadt Windhoek erinnert vor dem Unabhängigkeitsmuseum ein Denkmal an die Gräuel (siehe Titelbild).
Beispielhafter Dialog?
118 Jahre danach steht die Entschuldigung immer noch aus. Die deutsche Seite hat ein Programm für finanzielle Leistungen und weiteres Engagement in Namibia vorgelegt, doch viele Menschen in Namibia fühlen sich dabei nicht angesprochen und ihr Land unter Druck gesetzt.
Aber trotz aller Schwächen und massiver Kritik – der begonnene Dialog zwischen Deutschen und Namibiern gilt vielen Experten als beispielhaft. Weltweit gebe es kein ähnliches Bemühen um Aufarbeitung kolonialer Verbrechen, betonten mehrere Expertinnen und Experten bei einer Tagung der Frankfurt University of Applied Sciences, des Goethe Instituts und der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt am Main Ende September. Der Titel der Veranstaltung "Beyond" (Darüber hinaus) stand für eine geweitete Perspektive.
"Eigene Erfahrungswelt"
Den Impuls zu diesem Blick "Darüber hinaus" gab der deutsch-israelische Pädagoge Meron Mendel. Der Professor für Soziale Arbeit und Direktor der Anne Frank Bildungsstätte wollte mit der Konferenz angesichts wiederholter Kontroversen über Antisemitismus und Rassismus über künftige Erinnerungskultur und -kulturen nachdenken. Mendel schildert beim Nachdenken über historische Prägung auch eigene familiäre Erfahrungen. Er selbst sei Enkelkind von Holocaustüberlebenden, die Eltern seiner Frau seien als Flüchtlinge aus Pakistan nach Deutschland gekommen. Schon bei ihnen beiden kämen zwei Erfahrungswelten zusammen, "und ich kann das bei bestem Willen nicht als Gegensatz begreifen", sagt er der Deutschen Welle.
Auschwitz, das Menschheitsverbrechen hier – die vielen Verbrechen diverser Länder während der Kolonialzeit dort. In den Reden der Tagung dominierte die Betonung der Einzigartigkeit des millionenfachen nationalsozialistischen Judenmords. "Präzedenzlos" nannte der Antisemitismusforscher Steffen Klävers den Holocaust.
Beethoven und Hitler
Für ihn, sagte der in den USA lehrende Omer Bartov, einer der weltweit wichtigsten Historiker beim Thema Völkermord, sei und bleibe die Shoa ein "einzigartiges" Verbrechen. Für die Menschen in Deutschland gehöre sie zentral zur Erinnerungskultur, auch für Zuwanderer: "man kann nicht Beethoven haben wollen und Hitler verleugnen."
Und Bartov zitierte den Titel eines in diesem Jahr veröffentlichten Buchs der deutschen Autorin Charlotte Wiedemann: "Den Schmerz der anderen begreifen". Dieser Aspekt wurde in auffallend vielen der Redebeiträge thematisiert. Nie tauchte er im Titel einer Diskussion oder eines Vortrags auf oder stand im Mittelpunkt - aber immer wieder wurde er erwähnt: Empathie, emotionale Beteiligung. "Ohne die Anerkennung des Leids des anderen wird es keine politische Befriedung geben", sagte Doron Kiesel, wissenschaftlicher Direktor der Bildungsabteilung des Zentralrats der Juden mit Blick auf den heutigen Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern.
Dass auch dieser Ruf nach Empathie nicht zur Forderung werden darf, zeigte eine Szene bei einer der Frage-und-Antwort-Runden. Da rief ein Referent dazu auf, junge Leute in der Erziehung zu ermuntern, innerlich ein Stück "in den Schuhen der Vorfahren zu gehen" und damit deren Schicksal, Schuld oder Verantwortung nachzuspüren. Das sei, bemerkte energisch ein jüdischer Zuhörer, schwierig jenen zu sagen, die ihre Vorfahren in der Shoa verloren hätten. Wer solle sich vorstellen, in diesen Schuhen zu gehen?
Empathie in der Holocaust-Erziehung
Dennoch: Dieser Appell zur Wahrnehmung des Leids kurbelte die Debatte an. "Wie kann man den Blick so erweitern, dass das Leid des anderen wahrgenommen wird, ohne das eigene zu vergessen?", fragte Kiesel. Und die in Cambridge lehrende Anthropologin Esra Özyürek rief dazu auf, Empathie als Grundlage heutiger Holocaust-Erziehung auch im migrantischen Milieu zu sehen, deren eigene Situation aber nicht auszublenden. Es gehe - da zitierte sie in deutscher Sprache den deutschen Philosophen Edmund Husserl - um einen "Platzwechsel".
Dabei gab es auch kritische Gedanken zur Holocaust-Erinnerungskultur, zu ihrer "Nationalisierung" in Israel oder auch ihrer Globalisierung. Mirjam Zadoff vom NS-Dokumentationszentrum München verwies darauf, dass die mahnende Erinnerung an den Holocaust und die Beteiligung am "Nie wieder" nicht unbedingt mit dem kritischen Blick auf eigene historische Verantwortung und eigene koloniale Verbrechen einhergehe.
So hätten die USA heute mehr als 40 Holocaust-Museen – aber erst spät ein erstes Museum zur Sklaverei bekommen, sagte Zadoff. Und Japan schaue Jahr für Jahr feierlich-gedenkend auf den Holocaust – es blende aber eigene Verbrechen aus seiner Kolonialzeit komplett und entschieden aus.
Versöhnung mit Namibia?
Wie umgehen mit Verbrechen der Kolonialzeit, mit historischer Verantwortung für Gräueltaten und Ausbeutung? Auch deshalb war zum Ende der Tagung der Blick auf die schwierige Aufarbeitung des deutschen Völkermordes an den Herero und Nama in den Jahren 1904 bis 1908 spannend. Ruprecht Polenz (76), von 1994 bis 2013 für die CDU im Bundestag und seit 2015 Sonderbeauftragter der Bundesregierung für den Dialog mit Namibia, und Naita Hishoono vom Namibia Institute for Democracy tauschten sich da in kräftiger Kontroverse aus.
Das Werben von Polenz, die Politik in Namibia möge die zwischen den Regierungen erreichte Verständigung übernehmen, wies Hishoono zurück: Ihrem Land werde diese Forderung "wie eine Pistole vor die Brust gesetzt". So lasse sich "keine gemeinsame Erinnerungskultur schaffen, geschweige denn Versöhnung erreichen", sagte sie. Heutige, zutiefst ungerechte Wirtschaftsstrukturen, mit denen sich Europa von Afrika abschotte, blieben ausgeblendet.
Polenz hielt dagegen, es gehe um einen "Anfang für weitere Entwicklungen". Er hoffe, dass es noch in diesem Jahr zu einer Verständigung zwischen Deutschland und Namibia komme. Wie Hishoono und Polenz da miteinander redeten, das beeindruckte viele Zuhörer – weil beide das Leid, die Verbrechen und deren Aufarbeitung ernstnahmen.