Kein Zurück mehr für die EU
16. September 2020Ursprünglich war der große EU-China-Gipfel am 14. September auf zwei Tage angelegt, jetzt dauerte er nun nur etwas mehr als zwei Stunden. Dass die Corona-Pandemie das Treffen nur per Videoschalte möglich gemacht hat, sorgte in Brüssel aber auch für Erleichterung. Denn hätte der Gipfel wie geplant in Leipzig stattgefunden, hätten 27 europäische Staats- und Regierungschefs die Möglichkeit gehabt, sich mit dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping und anderen hochrangigen Vertretern Chinas auszutauschen.
So waren nur EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen, EU-Ratspräsident Charles Michel und Bundeskanzlerin Angela Merkel zugeschaltet, die dabei Deutschlands EU-Ratspräsidentschaft repräsentierte. In dieser reduzierten Konstellation konnten die Europäer zumindest den Eindruck erwecken, gegenüber China endlich einmal mit einer Stimme zu sprechen, was in der Vergangenheit selten so richtig geklappt hat. Zu viele EU-Staaten haben in der Vergangenheit ihr eigenes Ding mit Peking gemacht. Mit dem Format "17+1" hat China sogar ein eigenes Forum etabliert, um seine Interessen in Mittel-und Osteuropa durchzusetzen. Und nicht nur da: Im März 2019 war etwa Italien als erster G7-Staat Pekings Seidenstraßen-Initiative beigetreten. Italien sprach von einen historischen Meilenstein. Brüssel hat das gar nicht gefallen.
China nach der Corona-Krise gestärkt
Denn es ist mittlerweile für alle EU-Politiker offensichtlich, dass China immer selbstbewusster auftritt. Manche in Brüssel sagen sogar "herrisch". China hat die Corona-Krise besser überstanden als die meisten westlichen Länder. Im August stiegen die Exporte der zweitgrößten Volkswirtschaft wieder um fast zehn Prozent. Der Einzelhandelsumsatz legte im Vergleich zum Vorjahr um 0,5 Prozent zu, nachdem er im Juli noch um 1,1 Prozent gefallen war. Die Industrie-Produktion ist im August im Vergleich zum Vorjahr ebenfalls um 5,6 Prozent gestiegen. Alles weit bessere Zahlen als selbst westliche Analysten erwartet haben.
Obwohl die Virus-Krise in China begann, hat sie das Land eher noch gestärkt. Das bedeutet jedoch auch: Europa wird noch abhängiger von China. Für die europäische Autoindustrie ist China derzeit der einzige Wachstumsmarkt: neun Prozent Wachstum im August, mehr als 16 Prozent Einbruch in Europa. Dabei hat sich Chinas Handel mit der EU in den vergangenen 15 Jahren auch so schon verdreifacht. Deutschland ist mit Abstand der wichtigste Handelspartner Chinas in Europa.
Wachsende Skepsis der Europäer
Trotz der Geschäfte bleibt die Skepsis in der EU: Die chinesisch-europäischen Marktbarrieren sind nach wie vor unausgeglichen. Es sei "richtig und wichtig", sich um gute strategische Beziehungen zu China zu bemühen, sagte Merkel nach dem Video-Gipfel. Allerdings müsse man "die Dinge an den Realitäten messen". Bisher habe sich die chinesische Wirtschaft nicht ausreichend geöffnet.
Laut Daten des "EU Coalition Explorer", einem Umfrage-Tool des Europäischen Rates, betrachten die EU-Mitgliedstaaten China einerseits pragmatisch als Partner, gleichzeitig aber auch fast einstimmig als Rivalen. Mit wenigen Ausnahmen sind sie sich einig, dass die EU chinesische Investitionen in strategischen Sektoren einschränken muss. Auch herrscht innerhalb der EU mittlerweile Konsens, dass man nicht mehr zu den Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang und dem harten Vorgehen gegen die Demokratiebewegung in Hongkong schweigen kann.
Vorbehalte auch gegen Frankreich und Deutschland
Die EU-Staaten wollen sich aber auch nicht vorschreiben lassen, was sie zu denken haben, insbesondere nicht von Frankreich und Deutschland. Viele fürchten etwa, dass Frankreich die EU lediglich als Mittel betrachtet, um seine eigene geopolitische Macht auszubauen. Und Deutschland den Umgang mit China vor allem nach seinen eigenen wirtschaftlichen Interessen gestaltet - in der Krise mehr denn je. Fast 50 Prozent der deutschen Wirtschaft hängt an Exporten.
Während Deutschlands Exporte in die EU im Juli um fast zehn Prozent im Vergleich zum Vorjahr gesunken sind und die Exporte in die USA sogar um 17 Prozent, sind sie nach China nahezu stabil geblieben (-0,1 Prozent). Die Importe sind im Juli sogar um 7,4 Prozent im Vergleich zum Vorjahr gewachsen. Die Importe aus den USA hingegen über 14 Prozent eingebrochen. Da wird der politische Spielraum für Deutschland schmaler, will man nicht an dem Ast sägen, auf dem man sitzt.
Suche nach einer gemeinsamen Position
Dennoch ist eine einheitliche Position zu China wichtiger denn je. Doch Polen zum Beispiel betrachtet die USA etwa weiterhin als den wichtigsten Verbündeten Europas, während Frankreich und Deutschland auf mehr Partnerschaften im Indopazifik pochen und Spanien einer der wenigen Mitgliedstaaten ist, der besorgt auf Chinas wachsenden Einfluss in Lateinamerika blickt.
Solche Unterschiede dürfen jedoch keine Hindernisse mehr für eine gemeinsame EU-China-Politik sein. Sie müssen in den Diskussionen allerdings sehr genau berücksichtigt werden, damit sich kein Land ausgeschlossen fühlt. Deutschland könnte die verbleibenden Monate seiner Ratspräsidentschaft nutzen, um bessere institutionelle Rahmenbedingungen für eine inklusivere und kohärentere EU-China-Politik zu schaffen. Nur so kann die volle wirtschaftliche und politische Macht der EU auf Augenhöhe mit China ausgeschöpft werden. Die Zeit drängt jedoch. Denn beim nächsten, "echten" China-Gipfel im kommenden Jahr werden wieder alle EU-Staatschefs mitreden wollen.
Europa kann selbstbewusst sein
Ziel wäre dann etwa, endlich das Investitionsschutzabkommen mit Peking über die Bühne zu bringen, das die Rechtsgrundlage für wirtschaftliche Interaktionen mit China stärken und europäischen Unternehmen einen besseren Zugang zum chinesischen Markt ermöglichen soll. Dass dieses Abkommen, das Merkel eigentlich beim ursprünglich in Leipzig geplanten Gipfel hätte abschließen wollen, noch dieses Jahr zustande kommt, ist weiter fraglich. "China muss uns davon überzeugen, dass es die Sache wert ist, ein Investitionsabkommen zu haben", erklärt von der Leyen. Und Merkel sagt: "Irgendwann muss es zu politischen Entscheidungen kommen." Das ist vergleichsweise selbstbewusst.
Das sollte die EU auch sein. Denn die wirtschaftliche Abhängigkeit der EU von China wächst zwar, aber gleichzeitig ist es den Chinesen durchaus einige Zugeständnisse wert, wenn sie es schaffen, im Machtkampf mit den USA die Europäer an der ein oder anderen Stelle auf ihre Seite zu ziehen. Die EU hat deshalb durchaus Chancen, die eigenen Interessen zwischen beiden Polen auszubalancieren. "Europa muss zu einem Spieler werden, nicht zu einem Spielfeld", sagte EU-Ratspräsident Charles Michel nach dem Gespräch. Jetzt oder nie.