Sierens China: Straße im Nebel
19. September 2019Im September vor sechs Jahren verkündete Chinas Staats-und Parteichef Xi Jinping die "Belt-And-Road"-Initiative, auch Neue Seidenstraße genannt, welche die Volksrepublik wirtschaftlich enger mit Zentralasien, Europa und Afrika verzahnen soll. Seitdem wurde viel über das rund 1000 Milliarden Dollar schwere Investitionsprojekt geschrieben, wobei meist die Sorge überwiegt: Teilnehmende Länder würden sich verschulden, abhängig werden, ihre Souveränität verlieren. In Europa unterwandere das chinesische Geld gemeinsame Positionen. In Afrika verhalte sich China gar neo-kolonialistisch.
Chinas Investitionen sind hilfreich
Zwei neue westliche Studien zeichnen ein differenzierteres Bild: Laut dem paneuropäischen Recherchenetzwerk "Investigate Europe", zu dem auch Journalisten des Berliner "Tagesspiegel" zählen, gibt es bislang keine Belege für wirtschaftliche Schäden oder extreme Abhängigkeiten durch die Neue Seidenstraße. Im Gegenteil: Die Investitionen hätten bislang vor allem positive Auswirkungen auf die lokale Wirtschaft und den Arbeitsmarkt gehabt, lautet die Zusammenfassung der Recherchen vor Ort. Vielen Unternehmen, die von chinesischen Investoren teilweise oder ganz übernommen wurden, ginge es heute besser als vorher.
Selbst Rüdiger Luz, Leiter der Abteilung Betriebspolitik der deutschen Industriegewerkschaft Metall stellt fest: Die Investoren hielten sich "in aller Regel an die Gesetze und Tarifverträge". Und Frank Stiehler, Chef des Münchner Maschinenbauers Krauss-Maffei sagt zur Übernahme seines Unternehmens durch ChemChina: "Wir investieren heute doppelt so viel wie in den Jahren unter Führung durch angelsächsische Finanzinvestoren." Auch auf volkswirtschaftlicher Ebene hat Peking Interesse an stabilen Verhältnissen. Länder, die durch Kreditschulden in die Staatskrise schlittern, gefährden nämlich das Projekt der Neuen Seidenstraße - vor allem, wenn es wichtige Durchgangsländer sind.
Über 3000 Projekte hat China weltweit bereits umgesetzt - von der Ölpipeline in Myanmar bis zur Eisenbahntrasse in Kenia. Einen substanziellen Kreditausfall gab es bisher nur in Sri Lanka, was aber vor allem auch auf zwei unwirtschaftliche Großprojekte zurückzuführen ist, die der damalige Präsident Mahinda Rajapaksa unbedingt in seiner abgelegenen Heimatstadt Hambantota verwirklichen wollte. Insgesamt spielt China allerdings nur eine Nebenrolle in Sri Lanka. Nur zehn Prozent der Auslandsschulden des Landes entfallen auf Peking.
Der Westen gibt immer noch mehr Geld
Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung, erstellt von renommierten Spezialisten der Universität Duisburg-Essen, kommt zu dem überraschenden Ergebnis, dass in vielen Ländern entlang der Seidenstraße deutlich mehr westliches als chinesisches Geld fließt. Die Wissenschaftler verglichen die chinesischen Finanzströme mit denen aus europäischen Entwicklungshilfetöpfen, der Weltbank sowie aus den Staaten der Industrieländerorganisation OECD in 25 Empfängerstaaten. Zwischen 2013 und 2017 seien demnach insgesamt rund 290 Milliarden Dollar aus westlichen Quellen geflossen, während China aus rund 285 Milliarden Dollar kamen. Allerdings ist das Engagement Chinas gemessen an der relativen Wirtschaftskraft schon knapp vier Mal größer als das westliche.
Trotzdem lässt sich die Behauptung, China würde dem Westen weltweit das Wasser abgraben, nicht halten. Zumal die westlichen Gelder zwar dezentraler, aber konstanter fließen, als die chinesischen. Für die meisten der Empfängerstaaten seien die Gelder aus dem Westen gemessen an der Größe der Wirtschaft und des Staatshaushalts viel bedeutender als die chinesischen. Nur für fünf Länder war China in dem genannten Zeitraum der wichtigere Partner.
Mangelnde Koordination der Geber
Allerdings, und das ist nicht unwichtig, schlägt Peking viel geschickter politisches Kapital aus den Investitionen als die westlichen Länder, die große Probleme haben, sich untereinander zu koordinieren. Was diese Investitionen betrifft, gibt es den Westen nicht. China hingegen gibt es schon. Die Neue Seidenstraße wird als Gesamtprojekt viel besser kommuniziert und politisch begleitet, etwa durch große Konferenzen, bei denen zuletzt rund 40 Staatschefs in Peking hofiert wurden. Und Peking achtet mehr als der Westen darauf, dass die Politiker der Partnerländer die chinesischen Investitionen auch in ihren Erfolgsnarrativ einbauen.
Auch ein anderes Vorurteil Europa betreffend stimmt so nicht: China versucht nicht in erster Instanz Europa zu spalten, sondern es sind vor allem die Regierungen der Länder selbst, die die Investitionen der Neuen Seidenstraße benutzten, um sich von Gängelungen Brüssels zu befreien. Der Regierung in Ungarn zum Beispiel gelingt es geschickt, ein politisches Getöse zu verursachen, das von den Medien gerne aufgenommen wird, obwohl die Kräfteverhältnisse zwischen den Investitionen eigentlich eine ganz andere Sprache sprechen: Zwischen 2013 und 2017 hat Ungarn etwa über zwölf Milliarden Dollar an westlichen Geldern erhalten, die Summe aus China lag dagegen weit unter einer Milliarde. Allein aus der EU kamen Gelder in Höhe von 5,6 Prozent des ungarischen Staatshaushalts. Dennoch ist Budapest stets vorne mit dabei, wenn es darum geht zu verhindern, dass die EU gegenüber China eine einheitliche kritische Position findet. Der Grund: Budapest hofft in Zukunft noch mehr Geld aus Peking zu bekommen. Und: Von der neuen Weltmacht hofiert zu werden ist allemal angenehmer und beim Wähler fruchtbarer, als sich mit Brüsseler Beamten herumzuschlagen.
Investieren, um Weltmacht zu werden
Beide Studien kommen zu dem Schluss, dass China seine Investitionen durchaus als Mittel einsetzt, um seinen Status als Weltmacht zu festigen, den Yuan als Zahlungsmittel zu verbreiten, chinesische Geschäftspraktiken einzuführen und die eigenen Technologiestandards zu etablieren. Aber das machen andere Staaten nicht anders. Ob China, Europa oder die USA: Wer Geld einbringt, verschafft sich immer auch Einfluss. Allerdings unterscheiden sich die Wertvorstellung des Westens und Chinas natürlich. Und es geht immer um die jeweils eigenen Werte. China ist Stabilität im Zweifel wichtiger als demokratische Vielfalt.
Das größte Problem der Neuen Seidenstraße bleibt ihre Intransparenz. Oft ist beispielsweise unklar, zu welchen Konditionen Kredite vergeben werden. Peking will das von Fall zu Fall und von Land zu Land entscheiden und sieht nicht ein, was es den Westen angeht, wenn man bilateral Verträge aushandelt. Dass die Einladung an westliche Länder und Unternehmen unter diesen Bedingungen auf Skepsis stößt, müsste Peking allerdings auch klar sein.
Während bei chinesischen Finanzströmen "offensichtlich ein ökonomisches Kalkül" dominiere, würden jene aus westlichen Geberländern "einen klaren entwicklungspolitischen Charakter aufweisen", urteilt die Bertelsmann-Studie. Das heißt: China investiert, um am Ende Geld zu verdienen. Der Westen hingegen hilft. Dass von diesen westlichen Investitionen trotzdem weniger gesprochen wird, liegt auch daran, dass sie nicht unter einer starken Marke gebündelt sind. Erstaunlich, denn eigentlich sind Marketing und Branding, wie es neudeutsch heißt, Disziplinen, die aus dem Westen kommen.
Der Blickwinkel der Empfängerländer
Was wir im Westen unterschätzen: Während wir die Neue Seidenstraße unwillkürlich mit der Angst verbinden, Einfluss zu verlieren, sieht die Welt aus dem Blickwinkel der Empfängerländer anders aus. Für sie bedeutet die neue Seidenstraße die Hoffnung, Anschluss an die wohlhabenden Zentren dieser Welt zu finden. In dieser Hinsicht gelingt es den Chinesen besser, sich in den Blickwinkel der aufsteigenden Länder hineinzuversetzen und ihn für ihre Zwecke zu nutzen. Dabei ist die chinesische Initiative eigentlich ebenfalls nichts anderes als eine lockere Sammlung von bilateralen Handels- und Entwicklungsverträgen.
"Der Westen sollte seine eigenen Institutionen, Technologien, Geschäftsmodelle und Wertvorstellungen stärker als bisher als Alternativen zu den chinesischen Angeboten vorstellen", schlagen die Autoren der Studie vor. "Europa sollte darauf hinarbeiten, in Drittländern Standards zu setzen, die dann auch für chinesische Finanzierungen gelten." Das ist leichter gesagt als getan. Schon länger kann sich Europa noch nicht einmal auf eine einheitliche China-Politik einigen. Und dass Europa und die USA eine gemeinsame Linie finden, ist unwahrscheinlicher denn je.
Was nichts anderes heißt, als: Die Uneinigkeit des Westen hat weniger etwas mit Chinas Einflussnahme zu tun. Dass wir es nicht schaffen, unsere Kräfte zu bündeln, liegt vor allem an uns selbst.
Unser Kolumnist Frank Sieren lebt seit über zwanzig Jahren in Peking.