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Interview mit Peter Sloterdijk

7. Mai 2011

Er redet mit in Politik und Gesellschaft, streitet über Steuerrecht und Gentechnologie, über Gott und die Welt. Im DW-Interview spricht der Philosoph Peter Sloterdijk über den Stand der Dinge in der Philosophie.

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Peter Sloterdijk bei einer Lesung aus seinem Buch 'Du mußt dein Leben ändern' im ZKM Karlsruhe am 17. Juli 2009 (Foto: Rainer Lück, Quelle: Wikipedia)
Peter SloterdijkBild: cc-by:Rainer Lück-sa

Peter Sloterdijk ist einer der bekanntesten Philosophen der Gegenwart, der sich auch schriftstellerisch betätigt und für renommierte deutsche Zeitungen und Zeitschriften schreibt. Zusammen mit seinem Kollegen Rüdiger Safranski moderiert er im deutschen Fernsehen die Sendung "Das Philosophische Quartett", macht damit philosophische Themen für die Öffentlichkeit zugänglich - und philosophiert über Themen, die die Öffentlichkeit bewegen.

Seit zehn Jahren ist er Rektor der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe. Unter den Dozenten der Kunsthochschule sind nicht nur Designer und Medienkünstler, sondern auch Philosophen und Soziologen. Dennoch bezeichnet Peter Sloterdijk die Rolle der Philosophie in unserem Jahrhundert als marginal. Im Interview mit der Deutschen Welle spricht er über die Aufgaben der Philosophen in einer Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs.

DW-WORLD.DE: Herr Sloterdijk, es gibt im Fernsehen Ihre Sendung "Das Philosophische Quartett", und Philosophie begegnet uns auch zunehmend in den Feuilletons der großen Zeitungen und im Radio. Warum ist die Philosophie derzeit wieder so gefragt?

Die Moderatoren der ZDF-Sendung 'Das Philosophische Quartett', Peter Sloterdijk (rechts) und Rüdiger Safranski
Mit Rüdiger Safranski beim "Philosophischen Quartett"Bild: presse/zdf

Peter Sloterdijk: Ich bin nicht sicher, ob ich Ihre Diagnose unterstützen werde, dass die Philosophie sehr gefragt ist. Wenn Sie sich erinnern an die Zeiten, als Autoren wie Albert Camus oder Jean Paul Sartre am Leben waren und auf dem Höhepunkt ihrer Produktivität, sagen wir in den fünfziger und sechziger Jahren - in dieser Zeit, so kann man behaupten, hat die Philosophie eine offizielle Rolle gespielt. Im Augenblick scheint sie mir sehr, sehr marginalisiert. Wir haben ein Kunstsystem, das sehr stark blüht. Wir haben eine riesenhaft ausgebaute Jugendkulturszene, eine massenkulturelle Szene. Die Philosophie spielt nach meiner Wahrnehmung nur eine dekorative Rolle am Rande. Man lädt natürlich hin und wieder auch Philosophen ein, aber meistens dann unter so einer Rubrik wie "Extra" oder "Der Blick von außen".

Damit stellen Sie Ihr Licht unter den Scheffel. Ist die Aufgabe eines Philosophen heute nicht einfach eine andere? Philosophen sind heute nicht mehr die zurückgezogenen, vor sich hin denkenden Schreibenden, sondern so jemand wie Sie, der mit seinen Thesen, seinen Meinungen zu Politik und Gentechnologie an die Öffentlichkeit geht und dadurch wahrgenommen wird.

Das ist schon richtig. Aber ich versuche mal, die Sache so zu beschreiben, wie sie wäre, wenn ich nicht da wäre. Ich bin im Moment der bunte Hund auf diesem Feld, der eine durch und durch untypische Position einnimmt. Wenn Sie das ganze übrige Feld betrachten, dann werden Sie eigentlich bemerken, dass da nicht mehr viel passiert. Wir, Rüdiger Safranski und ich, haben einen neuen Typus von außerakademischen, schriftstellerischen Philosophen mitbegründet in den letzten 20 Jahren auf deutschem Boden. Aber denken Sie uns beide mal weg. Was bleibt denn dann? Wir haben ein paar Feuilletonisten, die ein bisschen Philosophie anbieten, und im Großen und Ganzen haben wir eine akademische Philosophie, die mehr oder wenig übellaunig vor sich hin arbeitet und die es eben nicht fertig bringt, den Brückenschlag zu den allgemeinen Fragestellungen zu vollziehen. Das ist der eigentliche Stand der Dinge.

Was sollte denn der Philosoph in der heutigen Zeit können?

Buchcover Peter Sloterdijk: Du mußt dein Leben ändern (Suhrkamp-Verlag)
Ein Essay über Anthropotechnik

Ich glaube, man kann heute nur sinnvoll Philosophie betreiben, wenn man die sophistische Tradition, das Sich-beteiligen-können an jeder Debatte, wieder aufleben lässt. Das heißt, wir bräuchten mehr rhetorische Ausbildung, wir müssten viel mehr allgemeine Lebenskönnerschaft, politische Könnerschaft, Wissenschaftskönnerschaft, Kunstkönnerschaft und solche Dinge in den Menschen vereinigen. Wir müssen wieder Philosophen heranziehen, die Mehrkämpfer des Könnens, Zehnkämpfer der theoretischen Disziplin sind.

Sie könnten auch Berater in einer Zeit der Politikverdrossenheit, der Religionsmüdigkeit sein?

All das öffnet sich in einem sehr weiten Spektrum von neuen Kompetenzen. Ich glaube, das Spektrum der Berufsanschlüsse für Philosophen, wenn sie nicht akademisch werden wollen, war noch nie so groß wie heute. Sie können vom Management Consulting bis zur Leitung einer Bank fast alles machen.

Aber Gedanken entwickeln soll er doch auch noch, der Philosoph?

Er tut nichts anderes. Philosophen sind Begriffsproduzenten. Das ist ihre Manufaktur. Sie leben in einer Werkstatt, in der Begrifflichkeiten weiterentwickelt werden, die es schon gibt. Und das ist die innere Beziehung zur designerischen Tätigkeit. Denn Design heißt ja niemals, eine Sache neu zu erfinden, sondern schon vorhandene Gegenstände von Grund auf, sozusagen vom Molekül aus, nochmal neu zudenken, so dass ihre Erscheinung sich nochmal ändern kann, obwohl das Prinzip des Gebrauchs als solches bereits ein für allemal entwickelt scheint.

Die meisten Begriffe sind in einem allgemeinen Vokabular scheinbar längst gegeben, längst bekannt. Wenn man sich aber einen Begriff näher ansieht und ihn neu bearbeitet, kann er auch weiter gebildet werden. Diese Art von Arbeit muss immer wieder von Neuem gemacht werden. Deswegen leben wir im Zeitalter des Designs und der Begriffsarbeit: die permanente Neuerfindung der Welt unter dem Gesichtspunkt, dass sie bereits gegeben ist und dennoch nicht genügt, so dass wir immer Grund haben, nochmal neu zu beginnen.

Heute muss man vielleicht auch ganz neue Begriffe und Worte finden. Im Moment passiert sehr viel in der Welt, Katastrophen wie Fukushima, bei denen man gedacht hat, so was kann nie sein. Da fehlen oft Begriffe und Worte.

Ein Sofa steht auf einem überfluteten Reisfeld im japanischen Sendai (Foto: AP)
Katastrophe aus dem Meer: "Da fehlen Begriffe ..."Bild: AP

Da fehlen Begriffe zunächst einmal im Sinne des Sprachlosmachenden, bei allem, was überwältigend ist. Die neptunschen Katastrophen, die aus dem Meer kommen, die vulkanischen Katastrophen, die aus dem Erdinnern kommen, das sind alles Dinge, die die Menschen seit jeher sprachlos gemacht haben. Insofern ist alle Kulturarbeit eine nachkatastrophische Aufarbeitung.

Seit 5000 Jahren versuchen die Menschen, das zu bewältigen, was im Zeitalter der Sintflut, in diesen bronzezeitlichen, großen tellurischen Katastrophen geschehen ist. Der ganze Zivilisationsprozess ist eine Nachbearbeitung von katastrophischen Einschnitten. Und wenn längere Zeit nichts passiert ist, dann entsteht die Art von trügerischer Ruhe, aus der wir im Augenblick wieder zu erwachen eingeladen sind. Insofern muss man sagen, wir leben in einer guten Zeit, weil sie für den Imperativ des Erwachens vieles tut.


Das Gespräch führte Gaby Reucher
Redaktion: Claudia Unseld