Solingen: 30 Jahre nach dem Brandanschlag
28. Mai 2023Dort, wo einst das Haus der Familie Genç stand, ragen heute fünf Kastanien in den Himmel. Am 29. Mai 1993 starben hier fünf junge Mädchen und Frauen; rechtsextreme Täter hatten das Haus in Brand gesteckt. Sie waren getrieben von Hass auf Ausländer. Auf Menschen wie die Gençs, die aus der Türkei stammen.
Eine Welle rechter Gewalt hatte damals das frisch wiedervereinigte Deutschland erfasst. Angesichts steigender Flüchtlingszahlen debattierten Politiker im Bundestag hitzig über eine Einschränkung des Asylrechts. Und auf den Straßen entlud sich Rassismus in Gewalt - und manchmal sogar Mord. In Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen oder Mölln - und am Haus der Gençs in Solingen, nahe Köln im Westen Deutschlands.
Kein Gras über die Tat wachsen lassen
Die Kastanien dort, wenige Jahre nach der Tat gepflanzt, sind heute fast so hoch wie einst das Haus, das nach dem Brand abgerissen wurde. Kurz vor dem 30. Jahrestag des Mordanschlags stehen die Bäume in voller Blüte. Nur noch vier Kellerstufen erinnern daran, dass hier Menschen lebten. Sie sind überwuchert von Gras, Löwenzahn und Farn.
Dass die Tat weiter in Erinnerung bleibt, dafür setzt sich Cihat Genç ein. Seine Schwestern Hülya und Saime wurden damals ermordet. Sie waren erst neun und vier Jahre alt. Mit ihnen starben Gürsün İnce, Hatice Genç und Gülistan Öztürk. Um Rassismus zu bekämpfen sei es wichtig, diese Opfer nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, so der 26-Jährige. "Jeder muss mitwirken und seinen Teil dazu beitragen." Etwa durch Gespräche in der Schule oder am Arbeitsplatz.
"So wenig Hass wie möglich"
Die Täter von damals haben ihre Freiheitsstrafen in Höhe von 10 bis 15 Jahren seit langem abgesessen. Nun, kurz vor dem 30. Jahrestag, gehen drei von ihnen über ihren damaligen Rechtsanwalt an die Öffentlichkeit: Sie beteuern ihre Unschuld. In der Stellungnahme, die der DW vorliegt, schreibt einer der Männer: "Den Angehörigen der Opfer dieses schrecklichen Verbrechens möchte ich nochmals mitteilen: Wir drei sind nicht die Mörder Ihrer Angehörigen".
Cihat Genç will sich zu diesem Schreiben nicht äußern. Ob er Hass auf die Täter empfindet? "Ich möchte, dass die Täter zumindest so viel leiden wie meine Eltern", sagt er der DW. "Aber ich empfinde keinen Hass, denn das verbietet mir meine Religion. Ich versuche, so wenig Hass wie möglich zu empfinden."
Ein Platz für die Friedensbotschaft
Cihat Genç freut sich, dass die Stadt Solingen zum Jahrestag des Anschlags einen Platz nach seiner Großmutter Mevlüde Genç benennen wird. Schon am Tag nach dem Anschlag hatte sie zur Versöhnung aufgerufen – obwohl sie zwei Töchter, zwei Enkelinnen und eine Nichte verloren hatte. Sie wurde zur weltweit geachteten Friedensbotschafterin, warb bis zu ihrem Tod im Jahr 2022 für ein Miteinander der Kulturen.
Der künftige Mevlüde-Genç-Platz liegt etwas eingezwängt zwischen einer viel befahrenen Bundesstraße und Wohnhäusern mit Stuckfassade im Zentrum Solingens. Nein, oft komme er nicht hierher, sagt ihr Enkel Cihat und schaut sich um. "Wir als Familie wollten eigentlich, dass eine Straße nach Mevlüde Genç benannt wird." Dafür werde man sich weiter einsetzen.
"Wir gehören in diese Gesellschaft"
Folgt man der vierspurigen Bundesstraße für eineinhalb Kilometer, dann landet man beim Bildungszentrum "Spitze". In einer ehemaligen Arztpraxis geben Rasim Çetin und seine Mitstreiter Schülern Nachhilfe. Es sind vor allem Kinder aus Familien mit Migrationsgeschichte, die hier unterrichtet werden. Die Zeugniskopie einer Viertklässlerin hängt an der Wand, fast bei jedem Fach steht ein "sehr gut" - Motivation für alle anderen.
Çetin ist auch Vorsitzender der "Alternativen Bürgerinitiative", die im Stadtrat sitzt und sich vor allem für die Anliegen der Solinger mit Migrationsgeschichte einsetzt. Das ist jeder Dritte der etwa 160.000 Bürger der Stadt - vor 30 Jahren waren sie in der deutschen Politik kaum sichtbar. "Wir gehören in diese Gesellschaft", sagt Çetin der DW. "Seit 60 Jahren sind wir hier, zuerst als Gastarbeiter aus Italien, Spanien und der Türkei. Wir haben Gutes und Schlechtes zusammen erlebt." Rassismus sei nach wie vor ein Problem. "Das ist eine Krankheit. Wir können sie nur gemeinsam bekämpfen."
Angst, dass die Gewalt weitergeht
Çetin setzt sich dafür ein, dass am Ort der Tat ein Museum errichtet wird; er wünscht sich eine Mevlüde-Genç-Schule und einen Schüleraustausch mit der Türkei. Dass am 29. Mai wieder der Bundespräsident, Minister und Ministerinnen nach Solingen kommen - das freut Çetin. Mit Cem Özdemir wird auch der erste Türkei-stämmige Minister Deutschlands anreisen.
"Aber es gibt hier seit 30 Jahren jedes Jahr am 29. Mai eine Gedenkveranstaltung. Und am Tag danach vergisst jeder wieder, was passiert ist. Das darf aber niemals vergessen werden." Denn nicht nur damals hätten einige Politiker den Hass auf Migranten geschürt. Auch heute werde versucht, Rassismus, Faschismus und Islamophobie zu verbreiten, besonders in den sozialen Medien.
1993 herrschte unter vielen Türkei-Stämmigen in Deutschland Angst vor der Gewalt der Neonazis. Türkische Familien kauften Strickleitern, um im Falle eines Brandes den Flammen entkommen zu können. Erkan Sarikaya kann sich gut an diese Zeit erinnern. Er war 15 und gerade auf dem Fußballplatz, als sein Bruder angerannt kam und vom Brandanschlag erzählte. "Angst vor dem Tod, das war mein erstes Gefühl", sagt er der DW. "Unser Gedanke war: In einer Stunde ist das nächste Haus dran und so weiter und so fort."
Erinnerung an die "Baseballschlägerjahre"
Der gebürtige Solinger arbeitet heute bei den Stadtwerken, beaufsichtigt unter anderem den Busverkehr. Bis zum Anschlag habe er keinen Rassismus erfahren, sagt er. "Sowas hat man nicht gekannt. Alles war gut, alles war friedlich. Bis zu diesem Tag." Sarikaya erinnert sich auch an die Randale, die nach dem Brandanschlag in Solingen tobten – unter anderem nationalistische Türken und deutsche Autonome zogen durch die Innenstadt, warfen Steine und zerschlugen Schaufensterscheiben.
Er erinnert sich jedoch auch an die kilometerlangen Lichterketten, mit denen Tausende ein Zeichen gegen die Gewalt der Neonazis setzen wollten – in Solingen und anderswo. "Baseballschlägerjahre" nennen manche diese Zeit heute. Denn Rechtsextreme und ihre Unterstützer setzten Anfang der 1990er Jahre nicht nur Häuser in Brand und randalierten vor Asylbewerberheimen. Sie zogen auch mit Baseballschlägern oder Messern bewaffnet um die Häuser, oft in Bomberjacken und Springerstiefeln, schüchterten Andersdenkende ein, griffen Ausländer an. In manchen Gegenden, besonders im Osten Deutschlands, dominierten sie das Straßenbild.
161 Todesopfer seit Solingen
Seit dem Anschlag von Solingen hat die Zahl der Todesopfer rechter Gewalt in Deutschland zwar abgenommen. Die Amadeu-Antonio-Stiftung listet jedoch 161 Menschen auf, die seitdem durch rechte Gewalttäter getötet wurden. Besonders im Zuge steigender Flüchtlingszahlen in den Jahren 2015 und 2016 schlugen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit wieder vermehrt in Gewalt um.
Erkan Sarikaya ist froh, dass es in Solingen seit 1993 friedlich zugegangen sei. Er hofft, dass seine Heimatstadt irgendwann wieder in erster Linie mit den hier hergestellten Messerklingen in Verbindung gebracht wird – und nicht mit dem Brandanschlag, an den viele Menschen in Deutschland denken, wenn sie "Solingen" hören.