Spanien: Kritik am Massentourismus auf den Kanaren wächst
29. April 2024Als Toni Ferrera kürzlich im Süden Gran Canarias unterwegs war, da lernte der Reporter der Online-Zeitung "Canarias Ahora" den 53 Jahre alten Juan kennen, der seit vielen Jahren in einer provisorischen Wellblechhüttensiedlung lebt, weil er sich keine Wohnung leisten kann. Juan arbeitet als Rettungsschwimmer am Pool eines Hotelkomplexes und bekommt dort 1000 Euro im Monat. "Dieses Erlebnis symbolisiert sehr gut, was auf den Kanaren los ist", sagt der Journalist, der seit Jahren über die aktuellen Themen auf den Inseln berichtet. "Ja, der Tourismus schafft viele Arbeitsplätze", sagt Ferrera. Man müsse sich aber fragen, was das für Jobs seien, wenn das Gehalt noch nicht einmal ausreiche, um eine Wohnung zu bezahlen.
Ein neuer Touristenrekord zeichnet sich auf den Kanaren ab
Dass eine gewisse Kritik am derzeitigen Tourismusmodell auf den Kanaren weit verbreitet ist, zeigten die Demonstrationen am Wochenende vom 20. April, bei denen insgesamt knapp 60.000 Menschen auf die Straßen gingen – für kanarische Verhältnisse eine enorme Zahl. "Das Gefühl der Unzufriedenheit mit den Zuständen gibt es in breiten Teilen der Gesellschaft", sagt José Miguel Martín, Präsident der Stiftung Fundación Canaria Tamaimos, einer der Organisationen, die zu dem Protest aufgerufen hatten. Vor allem die Entwicklung seit dem Ende der Pandemie habe viele Leute zum Nachdenken gebracht. Mehr als 16 Millionen Touristen kamen im vergangenen Jahr auf die Kanaren – so viele wie noch nie zuvor. Die Daten der ersten Monate des Jahres 2024 lassen einen neuen Höchstwert erwarten.
"Das Geschäft ist enorm", sagt José Miguel Martín. Tatsächlich ließen die Urlauber im vergangenen Jahr mehr als 20 Milliarden Euro auf den Kanaren. Der Tourismus macht knapp 40 Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung aus. "Es bleibt aber nichts von diesem Reichtum hier. Nur der Müll und sonstige negative Folgen." Das Gesundheitssystem sei chronisch überlastet, die Straßen überfüllt. Die Inselbewohner bekämen meist nur die geringqualifizierten Jobs in den Hotels und Apartmentanlagen. Die Statistiken belegen das: Kaum irgendwo in Spanien sind die durchschnittlichen Monatsgehälter so niedrig wie auf den Kanaren. Die Arbeitslosigkeit ist hoch. Laut der Gewerkschaft Comisones Obreras ist jeder dritte Inselbewohner von Armut bedroht. "Es muss sich etwas ändern", sagt José Miguel Martín.
Mietpreise haben sich in zehn Jahren verdoppelt
Das wohl drängendste Problem ist der Mangel an bezahlbarem Wohnraum, den das unkontrollierte Wachstum der Ferienvermietung in den vergangenen Jahren noch verschärft hat. Dazu kommt, dass es sich bei etwa jeder dritten Wohnung auf den Kanaren um den Zweitwohnsitz eines Ausländers handelt, erklärt Víctor Martín, einer der Organisatoren des Protestmarsches vom vergangenen Wochenende. Zwischen 2014 und 2024 hätten sich die durchschnittlichen Mietpreise auf den Inseln verdoppelt. "Es geht bei unserem Protest nicht um Tourismusphobie", sagt er. "Uns ist auch klar, dass der Tourismus nicht von einem Tag auf den anderen seinen Stellenwert auf den Kanaren verlieren wird." Man müsse aber das aktuelle Modell verändern.
Und so gehört ein Moratorium zu den Hauptforderungen der Protestler. Jegliches Wachstum des Tourismussektors soll gestoppt werden. In den vergangenen Monaten waren nach mehreren Jahren des Stillstands die Bauarbeiten an zwei umstrittenen touristischen Großprojekten auf Teneriffa wieder aufgenommen worden. Auch das hatte zum Aufflammen der Proteste beigetragen. Sechs Aktivisten waren gar in einen unbefristeten Hungerstreik getreten, um einen endgültigen Baustopp zu erreichen. "Das Moratorium müssen wir dann nutzen, um genau zu analysieren, wo die Grenzen der Aufnahmefähigkeit unserer Inseln sind", sagt Víctor Martín. Für ihn steht fest: "Der Tourismus muss schrumpfen."
Selbst die Hoteliers wollen kein weiteres Wachstum
Das sieht man mittlerweile selbst beim kanarischen Hoteliersverband Ashotel ähnlich. Man könne nicht Jahr für Jahr immer neue Touristenrekorde erwarten, sagt Juan Pablo González, Geschäftsführer des Verbandes. "Wie wir sehen, läuft das den Interessen der Branche selbst und der Bewohner der Inseln zuwider." Das Ziel müsse sein, die Qualität des Angebots so zu verbessern, dass künftig weniger Touristen kommen, diese aber im Idealfall mehr Geld ausgeben als bisher. Dafür, dass die Inselbevölkerung stärker vom Geschäft mit den Urlaubern profitiere, sei in erster Linie die Politik zuständig, erklärt González. Immerhin sorge die Branche auf den Inseln für Steuereinnahmen in Höhe von jährlich 3,4 Milliarden Euro. "Die Frage ist, ob dieses Geld effizient eingesetzt wird, um die Lebensbedingungen der Bevölkerung zu verbessern."
Der Präsident der kanarischen Regionalregierung, Fernando Clavijo, äußert Verständnis für die Proteste und räumte vor Medienvertretern ein, dass sich die Dinge ändern müssten. "Wir können nicht so weitermachen wie bisher, und es ist wichtig, dass wir uns neu orientieren", sagte er, vermied jedoch konkrete Zusagen. Am Mittwoch erteilten die Regierungsparteien dann allerdings im Regional-Parlament im Rahmen einer Abstimmung den wichtigsten Forderungen der Protestler eine Abfuhr, darunter der Einführung einer Touristensteuer, wie sie Urlauber in anderen touristisch geprägten Regionen Spaniens wie den Balearen und Katalonien seit vielen Jahren bezahlen müssen.
Und so werden die Aktivisten auf den Kanaren wohl nicht das letzte Mal auf die Straßen gegangen sein. Auch Reporter Toni Ferrera geht davon aus, dass die Protestbewegung nicht so bald klein beigeben wird. "Die Demonstration vom 20. April war nur der Anfang", ist er überzeugt.