Spiegel der Geschichte: Bernauer Straße
4. November 2019Sonntagnachmittag. Sonnenstrahlen auf dem Asphalt. Es ist einer der letzten schönen Herbsttage in Berlin. Ich laufe über die Bernauer Straße, auf den ersten Blick eine Straße wie jede andere. Autos und Straßenbahnen fahren an mir vorbei, Menschen kreuzen meinen Weg. Doch die Bernauer ist mehr als eine Straße. Sie ist ein historischer Ort und seit 1998 eine Gedenkstätte für die deutsche Teilung.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges war die Straße in Ost und West geteilt: auf der einen Seite der sowjetisch kontrollierte Sektor, auf der anderen der französische. Noch war die Bernauer Straße passierbar, aber ab 1961 war damit Schluss. Am 13. August 1961 errichtete die DDR die Mauer, die Ost- und West-Berlin voneinander trennte. Die Grenze verlief direkt durch die Bernauer Straße. Noch heute sieht man ihre Spuren: Einige wenige Mauerteile sind erhalten. Dort, wo sie nach 1989 abgerissen wurde, zeichnen hohe verrostete Metallstäbe den ehemaligen Grenzverlauf nach. Dahinter weite Rasenflächen. Hier erstreckte sich der ehemalige Todesstreifen mit Stacheldraht und Tretminen. Touristen und Schülergruppen machen Fotos, legen ihre Hand auf die Berliner Mauer, Kinder laufen im Slalom durch die rostigen Stäbe.
Zur falschen Zeit am falschen Ort
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite befinden sich das Dokumentations- und das Besucherzentrum der Gedenkstätte. Hier treffe ich Ida, eine kleine, ältere Dame, die ihren Nachnamen nicht nennen will. "Ich war seit damals nicht mehr hier", sagt sie mit brüchiger Stimme. Damals, im August 1961, war Ida 21 Jahre alt. "Ich war seit drei Jahren verlobt." Der Bau der Mauer trennte das junge Paar. Idas Verlobter wohnte in Berlin-Neukölln, also im Westen. Sie in Prenzlauer Berg, im Osten. Vor dem Mauerbau war es noch möglich, sich zu besuchen. "Danach konnten wir uns nur noch über die Mauer zuwinken." Eines Abends aber ging sie zu nah an die Mauer heran. Männer in Zivilkleidung hielten sie auf, sie wurde sofort verhaftet. "Viele Menschen sind auf diese Weise einfach verschwunden." Es kostet Ida Überwindung, mit mir durch die Metallstäbe zu gehen. Es scheint, als könne sie die Mauer immer noch spüren. Erst als wir den Rasen erreichen, atmet sie auf und erzählt weiter.
Ida war drei Monate in Untersuchungshaft der Stasi, der Staatssicherheit. Der Vernehmer bot ihr an, für die Stasi zu arbeiten und ihren Verlobten auszuspionieren. So wäre sie schneller wieder draußen gewesen und hätte ihn noch dazu besuchen können. Doch sie sagte ihnen: "Ich bin kein Spitzel!". Dann wurde sie in eine Zelle geschlossen und jeden Tag verhört. "Meine Familie wusste drei Monate nicht, wo ich war." Erst als es zum Gerichtsverfahren kam, sahen sie sich wieder. "Meine Mutter hatte aus Sorge um mich einen Nervenzusammenbruch."
Es grenzte an ein Wunder: Das Gericht sprach Ida frei. Am nächsten Tag ging sie wie gewohnt zur Arbeit. Keiner verlor darüber ein Wort. Auch sie schwieg. Tief im Inneren gab Ida den Glauben an eine vereinte Heimat nicht auf. "Ich war mir sicher: Die Grenze ist nicht für immer." Ihre Verlobung löste sich wenige Monate nach dem Verfahren. Die Umstände waren schuld.
Opfer der Geschichte
Ida hatte Glück, viele andere Menschen nicht. Bis heute weiß man von 140 Todesopfern an der Berliner Mauer. Grenzsoldaten, Flüchtlinge, Fluchthelfer, aber auch Unbeteiligte, die zur falschen Zeit am falschen Ort waren. Die meisten sind bei ihrem Fluchtversuch verunglückt oder erschossen worden. Darunter sechs Menschen an der Bernauer Straße. Doch es könnten noch viel mehr sein. "Die DDR-Regierung hat viele Vorfälle vertuscht", erzählt neben mir ein Guide einer Gruppe von Touristen. "Die Gedenkstätte arbeitet die Fälle auf. Es kommen immer wieder Neue dazu."
Während ich die Straße hinunterlaufe, entdecke ich kleine, runde Gedenktafeln auf dem Boden. Sie erinnern an Fluchtversuche, Zwangsräumungen, Todesfälle. Ich lese zum Beispiel: "25.9.1961: Flucht Familie B." Oder: "10.8.1961: Zwangsräumung Bernauer Straße Nr. 13". Die Namen und Daten stellen eine Verbindung zu den Schicksalen der Mauerzeit her und ich fühle mich den Betroffenen sehr nah.
Auch eine Tafel auf der Mitte der Wiese ehrt ihr Andenken. In kleinen Fenstern reihen sich die Fotografien der Toten aneinander. Der Ort ist von stiller Trauer umgeben. Einige Maueropfer sind erschreckend jung. Zwei Kinder wurden an der Grenze erschossen, mehrere ertranken beim Spielen in der Spree, weil niemand sich traute sie zu retten. "Der Fluss war Grenzgebiet. Den Feuerwehrmännern war es verboten zu helfen", erklärt der Touristenführer seiner Gruppe. Vor einem der Fotos liegt eine Rose. Sie ist noch nicht welk. "Manche Angehörige bringen Blumen her", erzählt der Guide.
Ich gehe ins Dokumentationszentrum. Hier geben Texte, Fotographien und Dokumentationen weitere Informationen und Daten zur Teilungsgeschichte. Manche Besucher sitzen vor kleinen Bildschirmen und folgen den Filmen auf den Monitoren. Andere bleiben vor den Fotos stehen. Sie zeigen Fluchtaktionen auf der Bernauer Straße, bei denen Ostberliner aus den Fenstern in den Westen springen. Einige Fluchtversuche waren erfolgreich. Viele scheiterten.
Kapelle der Versöhnung
Zur Gedenkstätte gehört auch eine schlichte Kapelle. Ein schwarzes Kreuz hängt über dem Eingang und erinnert an das ursprüngliche Gotteshaus, das sich hier befand: die Versöhnungskirche. Es war ein grauer Tag für die Gemeinde, als die DDR-Regierung 1985 die Sprengung der Kirche veranlasste. Das Originalkreuz brach von der Turmspitze ab. Wenige Meter entfernt liegt es heute auf dem Rasen. Westliche Gemeindemitglieder retteten es aus den Trümmern und bewahrten es auf. Heute symbolisiert es, was die Menschen während der Teilung verband: Hoffnung.
Geteilte Gemeinde
"Am 13.08.1961 fand unser letzter gemeinsamer Gottesdienst statt, danach durften wir Westberliner nicht mehr rein", erzählt mir Elke Kielberg. Schon als Kind hatte sie die Gottesdienste in der alten Versöhnungskirche besucht. Elke verweist auf eine Fotografie, die im Besucherzentrum hängt. Darauf winken die Ostberliner von der Treppe der Versöhnungskirche den Menschen aus dem Westen zu. Es war ihr erster geteilter Gottesdienst. Ein schmerzlicher Einschnitt für die damals 12-Jährige. Von nun an war die Kirche ihrer Kindheit für Elke verschlossen. Menschen, die sie vorher kannte, sah sie nun hinter einer Mauer. Ihre Stimme wird immer leiser. "Ich war zerrissen."
Das ovale Gotteshaus, das heute an der Stelle der früheren Kirche steht, gibt den Gemeindemitgliedern zurück, was ihnen genommen wurde. Nur wenige Besucher sitzen in den Stuhlreihen. Dreimal in der Woche findet ein Gedenkgottesdienst für die Grenzopfer statt. Elke Kielberg und ich zünden eine Kerze an. "Als 1989 die Mauer fiel, konnte ich es erst nicht glauben. Erst als uns mein Cousin und meine Tante aus dem Osten besuchten, wurde es wirklich. 28 Jahre - und plötzlich war es, als wäre ich wieder 12."
Die Bernauer Straße ist ein Spiegel von Geschichte und Geschichten. Von Menschen wie Ida, Elke und vielen anderen. Sich mitzuteilen fällt ihnen noch heute nicht leicht. Doch dafür gibt es die Gedenkstätte. Sie erzählt, wo andere schweigen.