Warum ist "Squid Game" so brutal?
12. Oktober 2021Sehr arme und sehr reiche Menschen haben eins gemeinsam, heißt es in "Squid Game": Das Leben macht ihnen keinen Spaß. Die einen wissen nicht, wie sie sich und ihre Familie ernähren können, und die anderen sind vor lauter Überfluss gelangweilt. Warum nicht beides zusammenfügen? Ohne zu spoilern: "Squid Game" wird von sehr reichen Menschen organisiert, die sich zu ihrer Zerstreuung hunderte Verliererinnen und Verlierer einladen. Diese werden durch sechs Spielrunden geführt. Alle, die die Spielrunde nicht schaffen, werden "disqualifiziert" - hingerichtet. Dem Sieger winkten viele Millionen als Preisgeld.
Diese wohl erfolgreichste Serie in der Geschichte von Netflix handelt von einfachen Kinderspielen, bei denen es um Leben und Tod geht. Ob es ein Laufspiel ist, bei dem jedem, der sich im falschen Moment bewegt, in den Kopf geschossen wird, oder verlierende Teams in fast unheimlicher Stille in die Tiefe stürzen - am Ende zählen mehr die perfiden psychologischen Tricks, mit denen die Spielerinnen und Spieler durch die Runden geschickt werden.
Brutal und unerträglich
Zum Teil ist das Geschehen so unerträglich, dass manche Menschen aus der Serie ausgestiegen sind. Wer denkt sich so etwas Verstörendes aus? Es ist der koreanische Regisseur und Drehbuchautor Hwang Dong-hyuk. Seit 2008 hatte er die Geschichte in der Pipeline und ging damit Klinken putzen. Niemand wollte das haben, es war allen potenziellen Geldgebern zu brutal und unrealistisch. Dem Wall Street Journal erzählte Hwang Dong-hyuk, er habe damals sogar seinen Laptop verkaufen müssen, um sich etwas zu Essen kaufen zu können. Erst die Corona-Pandemie habe die wachsende Schere zwischen Arm und Reich so sehr verdeutlicht, dass die Geschichte salonfähig wurde, so Hwang. "Die Welt hat sich verändert. Im Vergleich mit dem, was vor zehn Jahren war, machen all diese Punkte die Geschichte für die Menschen heute sehr realistisch."
Ein Spiegel der Gesellschaft
2020 gewann der koreanische Film "Parasite" einen Oscar. Auch hier ist die koreanische Gesellschaftsstruktur das zentrale Thema. Möglicherweise hat der internationale Erfolg dieses Films dazu beigetragen, dass nun auch "Squid Game" so durchgestartet ist.
Dr. Sulgi Lie, Film- und Medienwissenschaftler an der Freien Universität Berlin sowie an der Akademie der Bildenden Künste Wien, kuratiert Retrospektiven des koreanischen Kinos. Er findet, dass die Serie die gesellschaftlichen Probleme in Südkorea ungewöhnlich deutlich aufzeigt. "Da werden Arbeitsplätze wegrationalisiert, ausländische Arbeitskräfte werden ausgebeutet und quasi entrechtet, die hierarchische Struktur tritt nochmal krasser zutage. Im Rahmen der Coronakrise gab es Berichte von hohen Selbstmordraten bei Menschen, die ohne jede soziale Absicherung einfach durchs Raster gefallen sind. Ich glaube, was global als soziale Tendenz ähnlich ist, findet sich in der koreanischen Gesellschaft zugespitzter."
Dazu passt, dass die Spielerinnen und Spieler in der Serie aus allen möglichen Milieus stammen: Ein wegrationalisierter Arbeiter, ein ausgebeuteter Pakistani, ein ehemaliger Elite-Student, eine Frau, die aus Nordkorea geflüchtet ist, ein Arzt, der einen Kunstfehler begangen hat - und natürlich auch Gangster. Sie alle haben "draußen" keine Chance mehr, denn die Gesellschaft geht brutal mit Verliererinnen und Verlierern um.
Und deswegen machen alle, die die erste Spielrunde überlebt haben, freiwillig weiter mit. Denn - so heißt es an einer Stelle: "Es gibt zwei Höllen. Und die schlimmere ist die Realität."
Die Gewalt ist nicht das Brutalste
"Squid Game" wird oft wegen seiner drastischen Gewaltszenen kritisiert. Dabei sind Gewaltorgien in populären Filmen oder Serien nichts Neues. Schon Quentin Tarantino hat in Filmen wie "From Dusk Till Dawn" (1996) ordentlich Blut spitzen lassen und in der Erfolgsserie "Game of Thrones" (2011 - 2019) wurde in vielen Folgen ausgiebig gemetzelt.
Das eigentlich Brutale an der Serie sei, so Lie, dass aus einfachen Kinderspielen plötzlich blutige Gemetzel werden - im Sandkasten, unter Klettergerüsten, vor Wänden, die mit blauen Schäfchenwolken bemalt sind. "Was ein einfacher aber effektiver Trick ist, ist, dass die Serie auf ganz archaische Kinderspiele wie Murmelspielen oder Tauziehen zurückgreift und dass genau aus diesem Setting des Kinderspiels diese Gewalt eskaliert. Nicht die Gewalt selber, sondern diese Spannung zwischen Spiel und Gewalt ist das Interessante an der Serie."
Warum "Squid Game" gerade bei jungen Menschen so gut ankommt, liegt für Lie auf der Hand: Vieles erinnere stark an die Struktur von Computerspielen. "Einerseits das Abzählen von Toten, was beim Gaming nicht unüblich ist - wie das Sammeln von Trophäen oder Punkten - und andererseits diese Levelstruktur: Schaffst du ein Level, kommst du ins nächste."
Erstaunliche Twists
Serienjunkies können in der Regel schnell vorhersagen, was als nächstes passiert. Bei "Squid Game" ist das nicht ganz so einfach. Drehbuchautor Hwang Dong-hyuk hat immer wieder eine Überraschung parat. Zuschauerinnen und Zuschauer finden keinen Anker, können sich mit niemandem richtig identifizieren. Die Spielrunden erfordern immer neue Teams - wer in einer Runde zusammen halten muss, wird möglicherweise in der nächsten Runde zu Gegnern auf Leben und Tod. Niemand ist hier sicher, der Stärkste kann zum Schwächsten werden - und umgekehrt.
Die drastische Art und Weise, in der diese Geschichte erzählt wird, ist sicher dem kulturellen und politischen Hintergrund Südkoreas zu verdanken. "In Korea gibt es sehr viele Widersprüche zwischen Tradition und Moderne, und diese Widersprüche koexistieren", sagt Sulgi Lie. "Und diese vielen Konfliktzonen sind für Filme und Serien sehr interessant. Deswegen werden Geschichten auch radikaler erzählt. Weil eine permanente Spannung in der Gesellschaft herrscht."