"Ich hätte mir einen Polizisten gewünscht"
15. Juli 2019Das Bild ging um die Welt: eine Menschenschlange auf dem Gipfelgrat des Mount Everest. Mariam Ktiri stand in diesem Stau. Am 22. Mai hatte die Deutsch-Marokkanerin den Gipfel des höchsten Bergs der Erde bereits in der Nacht erreicht, um 2.35 Uhr Ortszeit. Beim Abstieg kam sie dann plötzlich nicht mehr weiter. "Schon kurz unterhalb des Gipfels sind uns die Massen entgegengekommen. Viele der Leute waren extrem langsam. Man sah, dass sie völlig erschöpft waren", sagt Ktiri der DW.
Rund anderthalb Stunden habe sie auf einer Höhe von rund 8800 Meter festgesteckt, mitten in der so genannten "Todeszone", wo Menschen wegen der extrem dünnen Luft nicht lange überleben können. "Gott sei Dank hatte ich noch genügend Flaschensauerstoff. Mein Sherpa hat das andauernd geprüft. In diesem Moment hätte ich mir gewünscht, dass ein Polizist die Leute stoppt und sagt: 'Wartet, bis die, die von oben kommen, runtergeklettert sind! Alles andere macht keinen Sinn.'"
"Leute mit null Ahnung"
Das Hauptproblem am Mount Everest, findet Ktiri, seien jene, die aufgrund mangelnder alpinistischer Erfahrung eigentlich nicht dort sein dürften. "Da waren einige, die null Ahnung hatten. Ich habe Leute gesehen, die schon im Khumbu-Eisbruch [oberhalb des Basislagers auf rund 5400 Metern - Anm. d. Red.] von ihren Sherpas am kurzen Seil hinaufgeschleppt wurden. Wenn einer schon an dieser Stelle nicht selbstständig laufen kann, hat er dort eigentlich nichts verloren und muss umkehren." Die Bergsteigerin plädiert dafür, dass die Veranstalter der kommerziellen Expeditionen Leistungstests einführen, um die bergsteigerischen Fähigkeiten ihrer Kunden zu überprüfen: "Die Leute mit null Ahnung sind ein Risiko für alle: für sich - okay, das ist ihr Problem - aber auch für die anderen."
Nach Schätzungen erreichten an jenem 22. Mai mehr als 300 Menschen den Gipfel des Everest auf 8850 Metern, so viele wie noch niemals zuvor an einem Tag. Mit rund 900 Gipfelerfolgen war das Frühjahr 2019 eine Rekord-Saison. Allerdings bezahlten auch elf Bergsteiger das Abenteuer Everest mit ihrem Leben.
Mit dem Tod konfrontiert
Einen Tag nach ihrem Gipfelerfolg am Everest bestieg Ktiri mit ihrem Sherpa auch noch den benachbarten 8516 Meter hohen Lhotse, den vierthöchsten Berg der Erde. "Ich bin so froh, dass ich den Lhotse noch angehängt habe", erzählt die Bergsteigerin. "Das war nach der Enttäuschung über den Stau auf dem Everest-Rückweg wie eine Belohnung. Am Lhotse waren am 23. Mai vielleicht ein Dutzend Bergsteiger unterwegs. Das war einfach schön - abgesehen von der Leiche, die ein paar Meter unter dem Gipfel sitzt." Es gibt an den Achttausendern einige tote Bergsteiger, die seit Jahren an der Stelle liegen oder sitzen, an der sie gestorben sind. Wegen der extremen Höhe ist es zu gefährlich, die Leichen zu bergen.
Mit dem Tod war Ktiri schon beim Anstieg zum Everest konfrontiert worden. Auf gut 7000 Metern hatte die Deutsch-Marokkanerin die Leiche eines Bulgaren passiert, der wenige Tage zuvor offenbar an einem Höhenhirnödem gestorben war. "Es sah aus, als ob er sich die Landschaft anschaue. Ich war geschockt." Das Gefühl verstärkte sich, als ihr wenig später eine Gruppe Sherpas entgegenkam, die einen Körper heruntertrugen. "Sein Fuß hat mich berührt, er war hart wie Stein. Da wurde mir klar, dass es ein Toter war", erzählt Mariam. "Danach bin ich ziemlich langsam geworden." Auch wenn sie psychisch mitgenommen gewesen sei, habe sie nicht daran gedacht umzukehren, sagt Ktiri. Sie sei auf ihr großes Ziel fokussiert gewesen.
"Seven Summits" innerhalb von zwölf Monaten
Mit dem Everest-Gipfelerfolg komplettierte Mariam ihre Sammlung der "Seven Summits", der höchsten Gipfel aller Kontinente. Und das innerhalb eines Jahres: Vor dem höchsten Berg Asiens hatte Mariam den Denali (Nordamerika, 6194 Meter, 28. Mai 2018) bestiegen, den Elbrus (Europa, 5642 Meter, 13. August 2018), den Kilimandscharo (Afrika, 5895 Meter, 24. September 2018), den Mount Vinson (Antarktis, 4897 Meter, 16. Dezember 2018), den Aconcagua (Südamerika, 6962 Meter, 12. Januar 2019) und die Carstensz-Pyramide (Ozeanien, 4884 Meter, 23. Februar 2019).
Ktiri hat einen marokkanischen und einen deutschen Pass: "Ich identifiziere mich mit beiden Ländern. Das eine ist meine Heimat, das andere mein Adoptivland." Auch charakterlich trage sie beide Länder in sich: "Wie viele Südländer bin ich manchmal impulsiv und entscheide aus meinem Herzen heraus. Doch ich habe auch typische deutsche Eigenschaften in mir: Ich will alles sehr korrekt und ordentlich machen. Pünktlichkeit ist für mich super wichtig."
Sie wuchs in der marokkanischen Stadt Casablanca auf. Mit knapp 18 Jahren kam Ktiri zum Studium nach Augsburg. Danach lebte die Unternehmensberaterin zwölf Jahre lang in München. Dort fand sie zum Bergsteigen. "Was macht man in München? Man geht in die Berge", sagt Ktiri. "Mit der Zeit sind meine Ambitionen größer geworden." Seit Ende 2018 lebt sie in Bern in der Schweiz. "Hier sind die Berge näher und höher. Das war für die Akklimatisierung einfach effizienter."
Arabischen Frauen Mut machen
Die Seven Summits seien für sie "bis jetzt das Projekt meines Lebens" gewesen, sagt die Bergsteigerin. Ihr Erfolg sei nicht einfach vom Himmel gefallen, sie habe dafür auch viele Dinge geopfert und sich am Ende ihren großen Traum erfüllt: "Ich kam als Studentin vor einigen Jahren nach Deutschland, und jetzt habe ich auf dem höchsten Berg der Erde gestanden. Das ist für mich eine Erfolgsstory, mein ‚German Dream‘." Sie fühle sich nun mental "sehr, sehr stark. Ich habe bewiesen: Wenn man ein Ziel vor Augen hat und es konzentriert, vor allem diszipliniert verfolgt, findet man auch immer einen Weg, es zu erreichen. Das gilt nicht nur für die Berge, sondern auch für das Privat- oder Berufsleben."
Was sie in dem "stark männerdominierten Bereich" Bergsteigen erreicht habe, solle auch anderen arabischen Frauen Mut machen, sagt Mariam Ktiri: "Der Islam, unsere Kultur ist die eine Sache, die wir respektieren können. Aber wir dürfen auch große Träume haben und uns verwirklichen."