Neuanfang in Detroit
4. Juli 2013Es ist Mittagspause im selbst verwalteten Restaurant im ersten Stock des "Pony Ride" in Detroit. In einem alten Industriegebäude haben sich rund 20 Firmen und Projekte zu einer Kreativwerkstatt zusammen getan. Ob Goldschmied, Designer oder Internet Start-Up, in dieser Mietgemeinschaft wird alles geteilt: Werkzeuge, Rohstoffe, Räumlichkeiten. "Anstatt fünf Sägen zu haben, benutzen alle, die eine brauchen, die gleiche", erklärt Kate Bordline, eine der Managerinnen. Fünf der aktuellen Mieter arbeiten beispielsweise mit Holz. "Sie teilen auch ihr Wissen und helfen sich gegenseitig." Jeder räumt auf und hält alles für die Gemeinschaft sauber.
"Richtung des Schiffs mitsteuern"
Diese Mieter des "Pony Ride" haben eines gemeinsam: Sie strotzen vor Energie und Enthusiasmus - ein Phänomen, das man im gebeutelten Detroit oft findet unter jungen Kreativen und Geschäftsleuten. Kate kam selbst erst vor wenigen Jahren nach Detroit: "Als ich all diese großartigen, aktiven Menschen getroffen habe, die so leidenschaftlich sind bei ihrer Arbeit und ihren Projekten, da habe ich mich sofort zu Hause gefühlt." In Detroit könne man etwas verändern, mitgestalten. Es sei eine Spielwiese für Kreative. "Hier kann man die Richtung des Schiffs mitsteuern", sagt Bordline. In größeren Städten wie New York oder Chicago habe man weniger Einfluss auf die Entwicklung der Stadt.
Wer ins Silicon Valley geht, folgt der Herde
Lange galt die Autostadt mit den riesigen Schuldenproblemen als Sinnbild des wirtschaftlichen Niedergangs Amerikas. Seit 1950 ist die Bevölkerung von 1,9 Millionen auf 700.000 Einwohner geschrumpft, jedes vierte Haus steht leer. Aber junge, enthusiastische und talentierte Fachleute, die die Stadt wieder aufbauen wollen, gibt es genug. Viele kommen mit ihren Ideen lieber nach Detroit als in die Hi-Tech-Hochburgen Silicon Valley oder New York.
Wer ins Silicon Valley geht, der folge der Herde, meint Josh Linkner vom Wagniskapitalgeber Detroit Venture Partners. Dort sei der Wettbewerb um Ressourcen und Talente hart. "Es ist unklug, dorthin zu gehen, wo die Massen hingehen. Wenn jemand wirklich etwas Wagemutiges starten will, dann lieber hier in Detroit", meint der Investor. Die Stadt sei viel wettbewerbsfähiger, und das nicht nur wegen der geringeren Kosten.
17 Milliarden Dollar Schulen hat die Stadt, die Insolvenz droht - aber der Gründerboom ist trotzdem sichtbar: Seit dem Jahr 2000 ist die Einwohnerzahl bei den unter 35-jährigen mit einem College-Abschluss um knapp 60 Prozent gestiegen. Detroit zählt zu den fünf am schnellsten wachsenden Hightech-Städten. "Unser Ziel ist nicht nur Gewinne zu machen, sondern Detroit durch den Gründerboom wieder aufzubauen", sagt Linkner. Detroit Venture Partners unterstütze Unternehmer, die mit Leib und Seele an die Sache herangehen. "Dadurch wollen wir ein quirliges Arbeitsumfeld schaffen, die leeren Häuser wieder füllen und die jungen Menschen dazu bringen, hier zu bleiben."
Auch Uhren brauchen Motoren
Wer die Manufaktur des Uhrenbauers Shinola in Detroit besuchen möchte, darf nicht die kleinsten Schmutz-Partikel mitbringen. Interessierte müssen Schuhe und Haare mit einer Plastikhaube verhüllen. Mitarbeiter Brian Ambrozy, der die Führung macht, zeigt auf kleine blaue Behälter. "Jeder dieser blauen Behälter enthält genug Teile für an die tausend Uhrwerke", erklärt Ambrozy. Man brauche also keine großen Lager oder Fertigungsanlagen.
An den Werkbänken der kleinen Produktionsstraßen arbeiten rund 15 Leute mit kleinsten Werkzeugen und Lupen. 45.000 Uhrwerke pro Jahr bauen sie gerade, bei voller Auslastung sind 500.000 möglich. Mitten im jungen, selbsternannten Technologie-Hub Detroit produziert Shinola Qualitätsuhren nach Schweizer Vorbild.
Für Firmengründer Jacques Panis gibt es keinen besseren Ort für seine Manufaktur als die Motor-City, wie Detroit auch genannt wird. "Wir haben nach einen Ort gesucht, mit starker industrieller Vergangenheit. Der das Erbe der verarbeitenden Industrie in sich trägt." Auch bei Shinola würden Motoren gebaut, Motoren für Uhren eben. "Und für die Produktion von Motoren gibt es keinen besseren Ort als Detroit", sagt Jacques Panis.
Gigantische Leinwand
Aber den größten Pluspunkt, den Detroit zu bieten hat, sieht Jacques Panis nicht in nüchternen Fakten oder ökonomischen Kennzahlen: Es ist die Atmosphäre, der "Vibe", wie man im Englischen sagt, der die Stadt erfasst hat. Wer nach Detroit komme, bekenne sich zur Motor-City und sei bereit, einiges zu geben. "Die Menschen hier zeigen uns ihre Leidenschaft, ihre Liebe, ihren Antrieb und den Drang, Detroit wieder zu dem zu machen, was es mal war: Das Paris des mittleren Westens", so Panis. Seine Firma Shinola sei nur ein kleiner Teil davon. Ein Farbklecks auf einer bunten und rund 350 Quadratkilometer großen Leinwand. "Diese Leinwand", sagt Panis, "heißt Detroit."