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Still-Leben. Oder: Wo ist bloß mein Tisch?

18. Juli 2010

Was macht den Reiz einer gesperrten Autobahn aus? Und was hat die Sperrung einer der meist befahrenen Autobahnen Deutschland mit Kultur zu tun? Ein Besuch am Tisch der Deutschen Welle.

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Die längste Tafel der Welt: Ein Kulturprojekt von Fritz Pleitgen im Rahmen der Ruhr 2010 (Foto: dw)
Bild: DW/Ziemsen

Am Anfang ist das Fragezeichen: Jeder trägt es auf der Stirn, jeder sucht seinen Tisch – ein buntes Chaos. Die Logistik ist ein Wunder. Sackkarren, Roller, Kinderwagen – alles wird genutzt, um Getränke, Essen oder Sonnenschirme an die Tische zu bringen. Eine mindestens 70jährige will an ihrem Stand Kindern stricken beibringen, aus ihrer Tasche quillt Wolle.

Blick auf die Autobahn mit Menschen vor Stadtlandschaft (Foto: apn)
Die Autobahn 40 zwischen Duisburg und Dortmund, gesperrtBild: AP

Die Idee ist einfach: Jeder, der sich um einen der 20.000 Tische beworben hat, muss seinen Tisch unter ein Motto stellen – etwas mitbringen: Es gibt Kabarett, Kinderschminken, türkischen Tanz und Kaffeeklatsch. Kultur findet nicht nur in Theatern und Museen statt, sondern überall zu Hause.

Nebenan

Unser Tisch steht genau bei Kilometer 56, Block 36, Tisch 27. Die Nachbarn sind frühere Bergleute, singen Lieder aus ihrer Jugend und staunen über sich und die anderen hunderttausende, die mit ihnen zusammen das Ruhrgebiet feiern. "Eine Autobahn auf 60 Kilometer zu sperren, alleine die Idee zu haben, ist schon wahnsinnig", sagt einer der früheren Bergleute neben uns. "In Dresden bauen sie die Frauenkirche – wir sperren unseren Ruhrschnellweg".

Der Mann mit dem Radio

Kinder bleiben an unserem Tisch stehen und fragen nach Bonbons, ein älterer Herr fragt, ob er uns eine Flasche Wasser abkaufen kann – er bekommt sie geschenkt. Reich könnte heute werden, wer Mützen und Sonnencreme verkauft. Das Stillleben ist bei über 30 Grad auch eine körperliche Herausforderung. Und dann eine Überraschung: Ein Mann mit einer großen Tasche, beginnt auf unserem Tisch darin zu wühlen und kramt ein Kurzwellenradio hervor. "Habe ich immer dabei", sagt er und schmunzelt. "Mal sehen, ob sie ihr Programm kennen", meint er schmunzelnd. Glück gehabt auf der Frequenz 6075 Kurzwelle läuft die Bücherwelt, Marlis Schaum stellt auf launige Weise ihrer literarischen Entdeckungen vor – Test bestanden. Wir reden über Auslandsrundfunk, über die Zukunft des Radios überhaupt und über gute und weniger gute Seiten im Internet. Zum Schluss frage ich ihn nach seinem Namen: Hans Jürgen Puttmann sagt er – und das dürfen sie ruhig im Radio sagen.

Gigantischer Gesprächsanlass

Wir haben einen Roller dabei, der uns aber leider kaum nützt – mittlerweile ist es schon als Fußgänger kaum möglich, sich an den Tischen vorbeizudrängeln. Überall fotografieren sich die Menschen gegenseitig, jeder will dokumentieren, dass er dabei gewesen ist. "Das Kunstwerk sind wir selber", sagt eine junge Frau, die mit ihren bedrohlich geröteten Kindern an unserem Tisch stehen bleibt und fragt ob sie sich kurz setzen kann. Dazu gesellt sich ein älteres Pärchen, beide ehemalige Mathematiklehrer, mit denen sich eine Diskussion über Schule früher, Schule heute entspinnt. "Es herrscht heute viel zu viel Druck, es bleibt zu wenig Zeit für Kinder sich frei zu entwickeln", meint der Ex-Mathelehrer. Die Mutter widerspricht und meint, wie wichtig es sei, schon früh möglichst viel zu lernen – es werden Argumente getauscht, wir schenken Wasser aus und lauschen gebannt.

"Die längste Tafel der Welt" ist vor allem eines: Dauerkommunikation. Ein gigantischer Gesprächsanlass.

Autor: Ramon-Garcia Ziemsen
Redaktion: Martin Muno