Stilles Erbe
4. Mai 2004Die Ursachen, warum ein Mensch gehörlos wird, sind vielfältig. In einigen Fällen kommt es durch einen Unfall oder eine schwere Krankheit zu Hörschäden. Das kann sowohl vor als auch nach der Geburt der Fall sein. Manchmal ist Gehörlosigkeit die Folge eines Impfschadens, in weiteren Fällen ist eine genetische Veränderung der Grund für die Schädigung des Gehörs.
Insbesondere eine Mutation des Gens Connexin 26 ist nach Angaben von Genetikern dafür verantwortlich, dass Menschen gehörlos werden können. Die Wahrscheinlichkeit ist besonders hoch, wenn beide Elternteile ebenfalls gehörlos sind und eine Mutation dieses speziellen Gens aufweisen. Die Mutation würde dann direkt an die Nachkommen weitergegeben, so die Autoren der Studie, die an der Virginia Commonwealth University durchgeführt und in der vergangenen Woche vorgestellt wurde.
Computersimulation
Mit einer Computersimulation untersuchten die Forscher, wie schnell und wie umfangreich die Gen-Mutation weitergegeben wird. Ihr Ergebnis: In den vergangenen 200 Jahren sei es zu einer Verdoppelung der Fälle gekommen, weil Gehörlose immer häufiger einen gehörlosen Lebenspartner gewählt haben.
Die Autoren der Studie haben den Zeitraum von 200 Jahren nicht zufällig ausgesucht. Walter Nance, Leiter der Studie, weist in seinem Bericht darauf hin, dass die Zahl der Gehörlosen-Ehen seit dem Jahr 1800 signifikant angestiegen ist. Damals wurden in den USA die ersten Schulen für Gebärdensprache eröffnet. Gleichzeitig hätten sich die sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen für Gehörlose sowie die Kommunikation untereinander verbessert, so Nance. Zuvor seien Ehen unter Gehörlosen eher selten gewesen.
In Deutschland gibt es keine vergleichbaren Studien. Nicht zuletzt mangelt es an aussagekräftigen Daten, denn nirgendwo wird bisher festgehalten, wann gehörlose Paare ein gehörloses Kind zur Welt bringen.
Kritik der Gehörlosen
Das ist wohl auch gut so, denn bei den Gehörlosen stößt die Studie auf deutliche Kritik. Einige Betroffene fühlen sich durch die Aussagen der Studie diskriminiert und fragen nach dem Sinn der Studie. In den Internetforen schildern sie ihre Befürchtungen: "Hinter diesen 'wissenschaftlichen Erkenntnissen' stehen Mediziner", schreibt einer der Autoren, der sich Bernd nennt. "Die wollen natürlich das 'Leiden' beseitigen." Gehörlose seien aber nicht nur behindert, sondern "auch eine sprachliche und kulturelle Minderheit", ergänzt Bernd. Er spricht damit ein Thema an, das häufig zu Missverständnissen zwischen Hörenden und Gehörlosen führt.
Schon seit langer Zeit setzen sich Gehörlose nämlich weltweit für die Anerkennung der Gebärdensprache ein. Für sie ist die Gebärdensprache kein künstliches und schwerfälliges Kommunikationsmittel, sondern ein wichtiges Kulturgut, mit dem sich die Gehörlosen eine Identität schaffen können. Die Deutsche Gebärdensprache (DGS) kennt beispielsweise eine eigene Grammatik, die sich zwar von der deutschen Lautsprache unterscheidet, aber dadurch nicht weniger effektiv ist.
Wenn gehörlose Eltern also gehörlose Kinder haben, ist die Kommunikation innerhalb der Familie und die erfolgreiche Entwicklung des Kindes keinesfalls gefährdet. Probleme sind wahrscheinlich eher in Familien zu befürchten, in denen gehörlose Kinder die Lautsprache ihrer hörenden Eltern nicht verstehen und die Wissensdefizite so von Jahr zu Jahr größer werden.