Strafe für Badawi verschoben
16. Januar 2015Ein islamkritischer Blogger ist in Saudi-Arabien nach Angaben von Menschenrechtlern mit den ersten 50 Stockschlägen bestraft worden. Das Urteil gegen Raif Badawi sei in der Hafenstadt Dschidda vor einer Moschee vollstreckt worden. Das berichtet die Organisation Amnesty International unter Berufung auf Augenzeugen. Der Blogger sei nach dem Freitagsgebet an Händen und Füßen gefesselt auf einen öffentlichen Platz geführt worden. Die Strafe habe er vor Zuschauern innerhalb von rund 15 Minuten erhalten, hieß es.
Das war nur der erste Teil der Strafe. Badawi war bereits im Mai 2014 wegen angeblicher Beleidigung des Islam zu insgesamt 1000 Stockschlägen verurteilt worden. Die Reststrafe wird laut Amnesty International über einen Zeitraum von 20 Wochen vollzogen.
Abschreckungsstrategie
Woche für Woche können sich die Gläubigen im saudischen Dschiddah also ein Bild davon machen, was denen widerfährt, die vom Pfad des vermeintlich rechten Glaubens abweichen. Wenn sie freitags in der Al-Dschafali-Moschee ihre frommen Pflichten erfüllt haben, werden sie auf dem Platz vor dem Gotteshaus Zeugen des restlichen Strafmaßes.
Badawi hat sie nach Ansicht saudischer Gerichte verdient, weil er es gewagt hatte, auf seiner Webseite "Freie saudische Liberale" die religiösen Instanzen seines Heimatlandes zu kritisieren. Er habe damit im Internet eine Plattform für Debatten über das Verhältnis von Politik und Religion geschaffen. Den Richtern war die körperliche Züchtigung allein deshalb nicht genug. Wegen "Beleidigung des Islam" wurde Badawi im Mai 2014 nach einer Revision noch einmal hart verurteilt: zu sieben Jahren Haft und einer Geldstrafe von knapp 200.000 Euro.
Kritik als Terrorismus diffamiert
Das Urteil sei "extrem hart", sagt Ali H. Alyami, der in Washington das "Center for Democracy and Human Rights in Saudi Arabi" leitet. Badawi habe sich - nach westlichen Maßstäben - keines Verbrechens schuldig gemacht. Er habe nichts anderes getan, als im frei zugänglichen Netz ein Forum zu starten - "für eine jüngere Generation saudischer Männer und Frauen, die sich frei ausdrücken und der Übermacht der Kleriker und Religiösen etwas entgegensetzen wollen".
Angesichts solcher Urteile - Badawi sei in Saudi Arabien längst nicht der einzige verurteilte Aktivist - bezeichnet Menschenrechtler Alyami dieses offizielle saudische Weltbild als "extremistisch". "Der Koran ist die Verfassung, die Scharia das Gesetz." Jeder, der die Religion, die königliche Familie oder die Kleriker kritisiere, stehe nach Auffassung der wahhabistischen Kleriker und des saudischen Regimes im Gegensatz zum Islam, erläutert Alyami. "Das ist natürlich lächerlich, denn mit dieser Kritik sagt man gar nichts gegen den Islam."
Wandel der politischen Kultur
Fraglich ist, wie lange das saudische Regime diesen Druck aufrechterhalten kann. Denn seit Jahren sieht es sich einer Entwicklung gegenüber, die immer mehr an Fahrt gewinnt: dem uneingeschränkten Zugang zu Informationen. Inzwischen haben die USA an Saudi Arabien appelliert, von dem Vollzug der brutalen Strafe abzusehen. Die Organisation "Reporter ohne Grenzen" - so Direktor Lucie Morillon, haben zudem 14.000 Menschen bewegen können, eine Petition zum Stop dieser Strafen zu unterzeichnen. "Schluss mit mittelalterlichen Methoden" heißt es darin. Über Reaktionen aus Saudi Arabien zu diesen Forderungen ist noch nichts bekannt.
Der 1984 geborene Badawi gehört zur ersten Generation in Saudi-Arabien, die mit Satellitenfernsehen und Internet groß geworden ist. Entsprechend gut sind die jungen Saudis über das Weltgeschehen informiert. Sie wissen, was in anderen Teilen der Welt passiert. Vor allem können sie Systeme, Werte und Weltbilder miteinander vergleichen. Der Wettbewerb der Ideen hat begonnen.
Dieser Schwung wird sich nicht mehr aufhalten lassen, sagt der saudische Künstler Ahmed Mater gegenüber dem Goethe-Institut. Er hoffe aber, dass dieser Wechsel friedlich vorangehe. "Wir brauchen ein Gleichgewicht zwischen Stabilität und Wandel. In den letzten 20 Jahren hat sich in meinem Land sehr schnell sehr viel verändert, und ich glaube nicht, dass wir uns als Gesellschaft die Zeit genommen haben, über diesen Wandel nachzudenken."
Dieses Versäumnis holen vor allem die jungen Saudis nun nach. Sie nutzen soziale Netzwerke wie Facebook ebenso selbstverständlich wie den Kurznachrichtendienst Twitter. Die Twittersphäre des Landes gehört zu den größten der Welt.
Spätestens seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 sieht sich das saudische Königshaus aber nicht nur ideologisch, sondern auch terroristisch bedroht. Ein Großteil der Flugzeug-Entführer stammte aus Saudi-Arabien. Terrorgruppen wie "Al Kaida" und der "Islamische Staat" haben dem saudischen Regime den Kampf angesagt. An Stelle des aus ihrer Sicht dekadenten Systems wollen sie einen für ihre Begriffe wahrhaftigen Gottesstaat errichten.
Fragwürdige Gesetze
Um die Terroristen zu bekämpfen, hat Saudi Arabien inzwischen mehrere Gesetze erlassen. Der Staat wendet sie aber nicht nur gegen bewaffnete Dschihadisten an, sondern auch gegen Liberale oder auch Blogger wie Raif Badawi, die ganz andere Ziele verfolgen und vor allem auf ausschließlich friedliche Mittel setzen. Die einzige Waffe, die sie benutzen, ist das Wort - freilich ein kritisches.
Diesen Unterschied sieht der saudische Staat offenbar nicht. Oder vielleicht will er ihn nicht sehen. Das Urteil für Raif Badawi beruht jedenfalls auf einem im Frühjahr 2014 in Kraft getretenen Gesetz, das dem Staat höchst willkürliche Mittel in die Hand gibt. Mit ihm verfüge er über ein juristisches Regelwerk, "das nahezu jeden von der Staatsideologie abweichenden Gedanken als Terrorismus kriminalisiert", beschreibt es die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch. Jede der staatlichen Ordnung widersprechende Äußerung könne als "Terrorismus" diffamiert werden.
Hausgemachte Probleme
Fraglich ist, wohin diese Politik führt. Die saudischen Bürger, sagt Aktivist Ali H. Alyami, würden über ihre Regierung und deren Politik immer ungehaltener. "Sie ärgern sich darüber, dass das Regime ihnen das Recht nimmt, sich frei auszudrücken." Alyami erwartet, dass sich dieser Unmut absehbar in Protesten artikulieren wird. Das saudische Regime befürchte genau das, weil sich Grundlage und Stoßrichtung der Proteste geändert haben - in Saudi Arabien ebenso wie in der übrigen arabischen Welt.
Zum ersten Mal sehen die Araber ihre Probleme als hausgemacht an. Sie machten nicht mehr den Zionismus oder Kolonialismus und nicht Europa oder Amerika dafür verantwortlich. "Sie sehen ihren eigenen Anteil an der Entwicklung", sagt Alyami. Hinzu käme noch etwas anderes: "Die Araber haben ihre Furcht verloren. Sie haben keine Angst mehr."
Der öffentliche Protest, glaubt er, könne dazu beitragen, dass Badawi vielleicht vorzeitig aus der Haft entlassen würde. Das wäre ein wichtiger Schritt - und zugleich nur einer von vielen. Denn die saudischen Gefängnisse, sagt Alyami, sind voll von Häftlingen, die aus ähnlichen Gründen verurteilt wurden. Nur von ihnen spricht kaum einer.