Wie Kriegsgegner in Russland verfolgt werden
20. April 2022Seit etwas mehr als einem Monat ist das Gesetz gegen die "Diskreditierung der russischen Streitkräfte" in Kraft. Seitdem haben sich Gerichte in ganz Russland mit mehr als 300 Fällen befasst. Mindestens 21 Strafverfahren wurden eingeleitet. In einigen Fällen hatten die Angeklagten zu Frieden aufgerufen und gefordert, das Blutvergießen in der Ukraine zu beenden, in anderen hatten sie schweigend gegen den Krieg protestiert.
"In der Nähe meiner Arbeitsstelle ist eine Polizeiwache, an der ich immer vorbeigehe. Das mache ich seit anderthalb Jahren und noch nie hat sich ein Polizist für mich interessiert. So war es auch einen Monat lang, als ich ein grünes Band an meinem Rucksack trug", erzählt Alexej aus Kasan, dessen Name auf seinen Wunsch hin geändert wurde.
"Symbol einer unerlaubten Protestaktion"
Seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine führen Aktivisten in verschiedenen Städten Russlands Friedensaktionen durch. Dabei hängen sie grüne Bänder an öffentlichen Plätzen auf, oder sie tragen welche als Zeichen des stillen Protest gegen den Krieg. Alexej wurde mitten in Kasan, der Hauptstadt der russischen Teilrepublik Tatarstan, festgenommen. Er sagt, das grüne Band an seinem Rucksack sei ursprünglich ein Zeichen zur Unterstützung des Kampfes gegen Nierenkrebs gewesen. Doch Alexej macht keinen Hehl daraus, dass er sich damit jetzt auch mit den Gegnern der russischen Invasion in der Ukraine solidarisch zeigt.
"Bei der Polizei wurde ich Augenzeuge einer sehr interessanten Situation. Der Abteilungsleiter rief ständig jemanden an und klärte ab, was man mir überhaupt vorwerfen solle. Erst wurde ein Protokoll aufgesetzt, dann ein zweites und schließlich wurde alles umgeschrieben", erinnert sich Alexej. Letztlich sei ihm vorgeworfen worden, das Vertrauen in die russischen Streitkräfte "in Anwesenheit von Bürgern" untergraben zu haben. Laut Protokoll hat Alexej einen schwarzen Rucksack bei sich gehabt, an dem ein grünes Band befestigt war. Und dies sei ein Symbol einer unerlaubten Protestaktion.
Immer mehr Festnahmen auf der Straße
Asat Sabirow und Irina Badertdinowa wurden vor einigen Tagen in Kasan festgenommen. Sie hatten in Geschäften Preisschilder durch Botschaften gegen den Krieg in der Ukraine ersetzt. Beispielsweise stand an einem Kaffeeregal plötzlich: "Die russische Armee hat die Kunstschule in Mariupol bombardiert. Etwa 400 Menschen wollten sich dort vor dem Beschuss retten." Beiden wird nun ebenfalls die "Untergrabung des Vertrauens in die Streitkräfte der Russischen Föderation" zur Last gelegt. In ihren Fällen sowie in Alexejs Fall haben aber noch keine Gerichtsverhandlungen stattgefunden.
Unterdessen berichten Einwohner von Kasan, dass in den vergangenen Tagen immer häufiger Menschen auf der Straße festgenommen würden. Ein Bürger, der ungenannt bleiben möchte, sagt, er sei angehalten worden, weil er einen blauen Schal und eine gelbe Jacke getragen habe, was die Farben der ukrainischen Flagge sind. Eine andere Einwohnerin der Stadt berichtet, sie sei festgenommen worden, weil sie Anti-Kriegs-Flugblätter in öffentlichen Toiletten angebracht habe. Ein weiterer Mann berichtet, er sei festgenommen worden, weil er einen Strauß getrockneter blauer und gelben Blumen getragen habe.
"Als der Krieg begann, bin ich zu einer Mahnwache gegangen. Es kamen zwei Polizisten auf mich zu und wir unterhielten uns. Wir waren unterschiedlicher Meinung, aber sie versuchten nicht, mich zu überzeugen", sagt ein weiterer Mann und fügt hinzu: "Als ich einige Wochen später auf der Polizeiwache landete, gab es kein Gespräch mehr. Sie erstellten ein Protokoll und freuten sich, dafür eine Prämie zu kassieren." Keiner der Polizisten habe das Wort "Krieg" in den Mund genommen, sie alle würden nur von einer "Spezialoperation" der russischen Armee in der Ukraine reden.
Durchsuchungen und Strafverfahren
Bevor die Festnahmen losgingen, wurden in Kasan bei Journalisten, Aktivisten sowie Studenten Durchsuchungen durchgeführt, und zwar in drei Wellen: am 6., 17. und 25. März. Viele der Betroffenen beklagen, Opfer von Polizeigewalt geworden zu sein.
"Während der Durchsuchungen gab es schreckliche Beleidigungen, Demütigungen, Drohungen sowie Schläge auf Kopf und Rücken. Es wurden Handschellen angelegt und man musste drei bis vier Stunden knien. Sie drohten damit, meine 69-jährige Mutter nackt auszuziehen, wenn ich nicht sagen würde, wo mein Handy sei", schreibt der Aktivist Andrej Bojarschinow, der ebenfalls in Kasan lebt. Seinen Bericht gab er an Journalisten weiter und der Text liegt der DW vor. Bojarschinow, der sich in einem Untersuchungsgefängnis befindet, wird von den Behörden beschuldigt, öffentlich zu terroristischen Aktivitäten aufgerufen zu haben. Die Vorwürfe weist er zurück.
Drei weiteren Bürgern Kasans - Marina Ionowa, Timur Tuchwatullin und Ruslan Terentjew - wird von den Behörden vorgeworfen, nach den Durchsuchungen Massenunruhen organisiert zu haben. Dabei geht es auch um eine Nachricht in einem Telegram-Chat der Protestbewegung von Kasan. Darin hatte ein User mit dem Nickname "Mickey Mouse" in einem Post zu Gewalt bei den Protesten aufgerufen. Der Post ist jedoch inzwischen verschwunden. Die Aktivisten, die noch auf freiem Fuß sind und ihre Anwälte halten die Vorwürfe für erfunden. "Ich kann nicht sagen, ob all diese Nachrichten und Beiträge echt sind. Ich habe nur einen Screenshot gesehen, aber wo er aufgenommen wurde, ist auch unklar", sagt Ruslan Ignatjew, Anwalt von Timur Tuchwatullin.
Menschen sollen zum Schweigen gebracht werden
Ähnliche Geschichten erzählen Bewohner verschiedener Regionen Russlands - von Kaliningrad bis Magadan. Anti-Kriegs-Flugblätter, Graffiti, Kleidung in den Farben der ukrainischen Flagge, all dies diskreditiere die russische Armee, behaupten Polizisten und Richter.
"Solche Verfolgungen finden wirklich massenweise statt. Menschen, die sich oft und lauter als andere gegen den Militäreinsatz wenden, werden auf unterschiedliche Weise in bereits laufende Strafverfahren verwickelt. All dies geschieht natürlich nur zum Zweck der Einschüchterung. Die Behörden glauben, dass sie mit Durchsuchungen und Strafverfahren die Menschen zum Schweigen bringen können", sagt die Menschenrechtlerin Elsa Nisanbekowa.
In den meisten Fällen werden diejenigen, die wegen "Diskreditierung des Einsatzes der russischen Armee" für schuldig befunden werden, mit einer Geldstrafe belegt. Aber wer innerhalb eines Jahres nach Zahlung erneut wegen Anti-Kriegsprotest für schuldig befunden wird, muss damit rechnen, strafrechtlich zur Verantwortung gezogen zu werden.
Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk