Streit um das Kalifat
30. Juni 2014Die ersten Opfer sind ans Kreuz genagelt, die Herrschaft der Terrorgruppe "Islamischer Staat im Irak und Syrien" (ISIS) in ihrem soeben ausgerufenen Kalifat kann beginnen. Frauen müssen sich komplett verschleiern, Restaurantbetreiber dürfen weder Alkohol ausschenken noch ihren Gästen den Genuss von Zigaretten erlauben. Musik spielen und die Fußballweltmeisterschaft in Brasilien im Fernsehen zeigen dürfen sie auch nicht. Tun sie es dennoch, drohen ihnen schwere körperliche Züchtigungen.
Auf ein Leben unter einer verschärften Variante der Scharia müssen sich nun viele Menschen einstellen. Denn das Kalifat wird sich nach Worten von ISIS-Sprecher Abu Mohammed al-Adnani von der Region Aleppo im Norden Syriens bis zur Region von Dijala im Osten des Irak erstrecken. Auch der Name der Bewegung soll diesen Anspruch dokumentieren, der letztlich auf nichts Geringeres zielt, als die gesamte islamische Welt zu vereinen: Die Organisation heiße ab sofort nur noch "Islamischer Staat". Zum "Kalifen" des neuen Gebildes soll ISIS-Führer Abu Bakr al-Baghadi werden. Das nun entstandene Kalifat sei "der Traum jedes Muslims" und "der Wunsch jedes Dschihadisten", erklärte al-Adnani weiter.
Aufhebung der Grenzen
Tatsächlich übe das Kalifat als Vision auf viele Muslime in der Region eine starke Anziehungskraft aus, sagt Politikwissenschaftler Stephan Rosiny vom Hamburger GIGA-Institut. Der religiöse Charakter, den sich ISIS zuspreche, mache die Bewegung für manche Menschen interessant: "Auf einen Nenner gebracht, heißt das Versprechen der radikalen Islamisten ja, der Islam sei die Lösung für alles."
Und Probleme finden sich in der Region genug. So reicht die Attraktivität von ISIS weit über abstrakte religiöse Versprechen hinaus. Zunächst unterstützte sie die irakischen Sunniten in ihren Bemühungen, sich wieder einen gebührenden Platz im Staat und in der Gesellschaft des Irak zu verschaffen. Nach dem Sturz Saddam Husseins und insbesondere nach dem Regierungsantritt des Schiiten Nuri al-Maliki fühlen sich viele Sunniten politisch und gesellschaftlich ausgegrenzt. Dieses Gefühl führte zu den Protesten im Nordwesten des Landes, die sich ISIS für ihre Zwecke zunutze machte. Nachdem sich die sunnitische Terrorgruppe in Mossul und anderen Städten etabliert hat, verkündet sie größere Pläne. So will sie nun das Sykes-Picot-Abkommen ungeschehen machen. Dieses 1916 zwischen Großbritannien und Frankreich geschlossene Abkommen führte zu jenen willkürlich gezogenen Grenzen, die das Gebiet der Araber und Muslime in mehrere Staaten zerstückelten. "Das Versprechen, diese Grenzen zu überwinden, hatten im 20. Jahrhundert zuerst die panarabischen Nationalisten und dann die gemäßigten Islamisten gegeben", sagt Stephan Rosiny. "Beide Gruppen haben es nicht erfüllt. Jetzt wollen es die radikalen Dschihadisten umsetzen."
Politischer Minimalkonsens
Eben dieser Anspruch könnte den weiteren Erfolg von ISIS aber auch wieder in Frage stellen. Denn die Koalition aus Stammeskämpfern, Anhängern des gestürzten Präsidenten Saddam Hussein, sunnitischen Islamisten und radikalen Dschihadisten wurde zunächst durch ein gemeinsames Ziel zusammengehalten: ein Ende der Regierung von Nuri al-Maliki. Längst nicht alle Gruppen, die sich mit ISIS verbündet haben, können hingegen der Vorstellung eines grenzüberschreitenden Kalifats etwas abgewinnen. "Es dürfte ISIS kaum gelingen, ihr Kalifat über größere Territorien zu etablieren oder zu halten, da sich ihre Vorstellungen vom Islam sehr von denen anderer Sunniten in den nun eroberten Gebieten unterscheiden", sagt Rosiny.
Vor allem aber stellt sich die Frage, wie ein solches Kalifat überhaupt bestehen kann. Weder seine Regierung noch die einseitig aufgehobenen Grenzen sind legitimiert, weswegen es international kaum anerkannt werden dürfte. Wirtschaftlich und politisch dürfte es eine sehr schwierige Zukunft vor sich haben. International isoliert, wäre es vollkommen auf sich selbst angewiesen.
Kalifat kein gemeinsames Ziel
Deshalb sind längst nicht alle Verbündeten von ISIS mit diesem Schritt einverstanden. Selbst einige andere dschihadistische Gruppen können der Aufhebung der derzeitigen irakischen Grenzen nichts abgewinnen. So ist etwa die Gruppe Ansar al-Sunna für die Errichtung eines Kalifats, will dieses aber auf die derzeitigen Grenzen des Irak beschränken. Andere Gruppen wie etwa die irakischen Muslimbrüder sprechen sich zwar für eine von Bagdad militärisch, juristisch und ökonomisch unabhängige Provinz aus, wollen mit der Zentralregierung dort aber nicht restlos brechen. Andere Gruppen wiederum, wie etwa die "Islamische Armee", setzen sich dafür ein, die religiöse und kulturelle Identität der Sunniten innerhalb der irakischen Grenzen zu wahren. Ehemalige Mitglieder der Baath-Partei hatten sich mit ISIS ohnehin nur verbündet, um die Partei irgendwann vielleicht wieder an die Macht zu bringen. Von einem Kalifat halten diese nationalistisch eingestellten Iraker überhaupt nichts.
Die Opposition gegen die Regierung al-Maliki ist der kleinste gemeinsame Nenner des bisherigen Bündnisses. Die Erfolge, die es in den letzten Wochen und Monaten errungen hat, dürften nicht wenigen seiner Mitglieder bereits zu viel geworden sein. Die Terrorgruppe ISIS wird sich in Zukunft nach anderen Bündnispartnern umsehen müssen. Dass sie diese findet, ist alles andere als sicher. Doch auch dann ist für den Irak noch nicht viel gewonnen. Viele Iraker befürchten, die Gruppe könnte genügend Kraft haben, ihre Pläne zumindest eine Zeit lang auch aus eigener Kraft durchzusetzen.