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Streit um Kinderrechte im Grundgesetz

15. Januar 2021

Kinderrechte sollen ins deutsche Grundgesetz, finden Union und SPD. Die Regierungsparteien haben jetzt einen Kompromiss vorgelegt. Doch der stößt auf viel Kritik - auch mit Verweis auf die deutsche Geschichte.

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Deutschland Demonstration  für die Beachtung der Kinderrechte während der Corona-Pandemie
Bild: Boris Roessler/dpa/picture alliance

Ob beim Bau eines Spielplatzes oder dem Streit ums Sorgerecht: Häufig werden, sagen Kritiker, Entscheidungen über die Köpfe von Kindern und Jugendlichen hinweg getroffen. Die Koalition aus CDU/CSU und SPD will das ändern. Ihre Lösung: Kinderrechte sollen im Grundgesetz festgeschrieben werden, also in die deutsche Verfassung aufgenommen werden. Das hatten die Regierungsparteien 2018 in den Koalitionsvertrag gesetzt und jetzt mehr als ein Jahr lang verhandelt.

Nun steht ein Kompromiss der Regierungsparteien. Artikel 6 des Grundgesetzes, der das Zusammenspiel von Familien und Staat regelt, soll ergänzt werden durch folgende Formulierung: "Die verfassungsmäßigen Rechte der Kinder einschließlich ihres Rechts auf Entwicklung zu eigenverantwortlichen Persönlichkeiten sind zu achten und zu schützen. Das Wohl des Kindes ist angemessen zu berücksichtigen. Der verfassungsrechtliche Anspruch von Kindern auf rechtliches Gehör ist zu wahren. Die Erstverantwortung der Eltern bleibt unberührt."

Deutschland markierter Artikel 6 im Grundgesetz
Dieser Artikel soll ergänzt werden: Artikel 6 des GrundgesetzesBild: Sascha Steinach/dpa/picture alliance

Kinderrechte durch UN-Konvention geschützt

Doch zunächst Grundsätzliches: Kinder haben bereits festgeschriebene Rechte in Deutschland - im Jugendschutzgesetz, dem Kinder- und Jugendhilfegesetz und im Bürgerlichen Gesetzbuch. 

Zusätzlich hat sich Deutschland der UN-Kinderrechtskonvention verpflichtet, die seit über 30 Jahren die Rechte von Kindern in den Fokus nimmt und die alle Mitgliedsstaaten der Vereinen Nationen (UN) mit Ausnahme der USA unterzeichnet haben.

Die UN-Konvention hatte auch bereits Auswirkungen auf deutsches Recht. Unter anderem wurde seit der Ratifizierung ein Gesetz verabschiedet, das Gewalt in der Erziehung ächtet. Und seit August 2013 haben sogar alle Kinder ab dem vollendeten ersten Lebensjahr ein Anrecht auf einen öffentlichen Betreuungsplatz. 

Stärkere Sensibilisierung für Kinderrechte?

Was dafür spräche, die Kinderrechte ins Grundgesetz zu nehmen, erklärt die Landesbeauftragte des Bundeslandes Hessen für Kinder- und Jugendrechte, Miriam Zeleke, so: "Es gibt Defizite im einfachen Recht und der Rechtspraxis. Und die große Hoffnung ist, dass, wenn die Kinderrechte Teil des Grundgesetzes sind, die Rechte der Kinder dann auch stärker geachtet werden". Eine Grundgesetzänderung würde hier viele Entscheider, auch auf kommunaler Ebene, stärker für das Thema sensibilisieren. Anderen Kritikern, wie zum Beispiel aus den Reihen der Partei "Die Linke" und aus Kinderschutzbünden, geht es vor allem um sprachliche Feinheiten. Sie lehnen den vorformulierten Kompromiss der Regierung zwar nicht komplett ab, hätten sich aber gewünscht, dass es im Gesetzestext nicht nur heißt "Kinderrechte sind angemessen zu berücksichtigen", sondern gar "Kinderrechte sind vorrangig". Dieser kleine, aber feine Unterschied könnte nämlich Auswirkungen auf spätere Urteile haben. Auch seien keine Beteiligungsrechte von Kindern festgehalten - also dass Kinder teils dort mitbestimmen dürfen, wo es um ihre Belange geht.

Tatsächlich gibt es bereits einige Länder, die ein Beteiligungsrecht von Kindern in ihre Verfassung aufgenommen haben, darunter Österreich, Irland, Norwegen und Polen. Für Miriam Zeleke ist das auch ein Zeichen eines ausgeprägten Demokratie-Verständnisses: "Kinderrechte sind keine Abhak-Liste. Primär geht es um eine Haltung. Darin steckt auch die ganze Frage von Demokratie und Machtverteilung. Wenn ich für mich als Kind selbst Verantwortung übernehmen kann, dann nehme ich mich als Gestalterin wahr, dann bin ich nicht ohnmächtig, und möchte mich einbringen und beteiligen."

Lehren aus der Geschichte

Doch nicht alle sehen eine mögliche Änderung des Grundgesetzes so positiv. Das hat mit dem komplexen Verhältnis von Staat, Eltern und Kind zu tun. Artikel 6 des Grundgesetzes ist sehr bedacht so formuliert, dass die Erziehung eines Kindes primär bei den Eltern liegt und der Staat nur mit sehr hohen Hürden in diese Eltern-Kind-Beziehung eingreifen darf. Das ist auch eine Lehre aus der Zeit des Nationalsozialismus, als Kinder aus politischen und rassistischen Gründen von ihren Eltern getrennt und vom Staat indoktriniert wurden. Auch später in der DDR kam es vor, dass Kinder aus ideologischen Gründen ohne ihre Eltern in Heimen aufwuchsen.

Deutschland Kinderrechte ins Grundgesetz
Der Staat hat zwar heutzutage eine Wächter-Funktion, soll aber nur wenig in die Erziehung eingreifenBild: Christoph Soeder/dpa/picture alliance

Auch deshalb lehnen mehrere Familienverbände jegliche Grundgesetzänderung in Bezug auf Eltern- und Kinderrechte ab. *Dazu gehört auch "Demo für alle", laut Selbstbeschreibung ein "Aktionsbündnis für Ehe und Familie". Kritiker aber bescheinigen der Organisation eine Nähe zur rechtspopulistischen AfD und der rechtsextremen "Identitären Bewegung". Durch die Verbindung mit christlichem Fundamentalismus würden demnach völkische, neurechte und homophobe Positionen gesellschaftsfähig gemacht werden. In einer Pressemitteilung verweist das Bündnis auf das wohl austarierte Verhältnis von Staat und Familie: "Das natürliche Elternrecht würde damit de facto ausgehebelt und die Macht des Staates über die Familie deutlich ausgedehnt. ‘Kinderrechte‘ im Grundgesetz bringen Kindern kein einziges neues Recht, dafür aber den staatlichen Behörden neue Zugriffsmöglichkeiten gegen die Familie." Zum Beispiel, so die Befürchtung des Bündnisses, könnte mit dem Verweis auf das Grundgesetz eine Pflicht, sein Kind ab dem ersten Geburtstag in die Kita zu schicken, eingeführt werden.

Ob es wirklich zu einer Änderung des Grundgesetzes kommt, ist indes noch völlig unklar. Nötig wäre dafür eine Zweidrittel-Mehrheit in Bundestag und Bundesrat, also der Länderkammer. Und dafür wären Stand jetzt auch Stimmen der Opposition nötig, die sich bisher in Teilen wenig begeistert von dem Vorstoß zeigt.

*Der Beitrag wurde nachträglich an dieser Stelle modifiziert und ergänzt.