Streit um Kriegsentschädigungen
15. April 2013Ein Bericht des griechischen Finanzministeriums soll Beweismaterial für Gräueltaten und erzwungene Kredite durch das nationalsozialistische Regime in Deutschland liefern. Er wird als geheim eingestuft. Laut Informationen der Zeitung To Vima wurde er von einer Expertengruppe erstellt, die Staatsarchive nach einschlägigen Dokumenten durchsucht hat.
Der Bericht soll auch bestätigt haben, dass Deutschland nach Abschluss eines bilateralen Reparationsabkommens im Jahr 1960 Entschädigungen in Höhe von 115 Millionen D-Mark an griechische Opfer des nationalsozialistischen Terrors geleistet hat. Aus deutscher Sicht sind dadurch sämtliche Entschädigungsansprüche abgegolten - und ohnehin verjährt. Griechenland verweist seinerseits auf das Londoner Schuldenabkommen von 1953, in dem Zahlungsverpflichtungen aus dem Zweiten Weltkrieg auf die Zeit "nach Abschluss eines Friedensvertrags" vertagt würden.
Für Hagen Fleischer, Historiker und emeritierter Professor der Universität Athen, sind griechische Reparationsforderungen durchaus berechtigt: Vor 1990 habe Deutschland immer gesagt, "es ist noch zu früh, weil Deutschland geteilt ist: Der Krieg wurde von ganz Deutschland geführt, nicht durch das halbe Deutschland und wenn wir wieder vereint wären, könnte man darüber reden." Nach der Wiedervereinigung "war dann plötzlich die Antwort: Jetzt ist so viel Zeit vergangen, also ist es zu spät", kritisiert Fleischer.
Historiker Fleischer: 1960 wurden nicht alle Entschädigungsansprüche abgegolten
Der von deutscher Seite vorgebrachte Einwand, alle Reparationsansprüche seien durch das Abkommen von 1960 bereits abgegolten, sei nicht stichhaltig, glaubt der Historiker: Der damalige griechische Botschafter in Deutschland habe in einem Antwortbrief klargestellt, dass nicht alle Entschädigungsansprüche abgegolten wären. "Um diese Entschädigungen von 115 Millionen in einen Kontext zu setzen: Die Niederlande, die wesentlich geringere Verluste hatten, haben einen höheren Betrag erhalten", gibt der Historiker zu bedenken. Das Thema Reparationen sei damit nicht abgeschlossen.
Konkrete Zahlen werden im Bericht des Athener Finanzministeriums nicht genannt. Opferverbände berichten von 160 Milliarden Euro, diverse Kommentatoren nennen ein Vielfaches davon. Bei den möglichen Forderungen geht es nicht nur um Entschädigungen für Menschenleben und Sachwerte, sondern auch um ein Zwangsdarlehen, das die griechische Zentralbank dem damaligen Besatzer Deutschland im Jahr 1942 gewähren musste.
Hagen Fleischer plädiert dafür, dass man den Zwangskredit von sonstigen Forderungen trennt: Aus "praktischen Gründen" sei die Geltendmachung von Reparationsansprüchen obsolet, da keine deutsche Regierung einen Präzedenzfall riskieren würde, meint der Historiker. Die griechische Seite sei deshalb gut beraten, darauf zu verzichten und alle Ansprüche auf den Besatzungskredit zu fokussieren. Schließlich hätten die Besatzer ihre Darlehensschuld anerkannt, auf 476 Millionen Reichsmark beziffert und mit der Rückzahlung kurz vor Kriegsende begonnen, erläutert Hagen Fleischer.
Bundesfinanzminister Schäuble: Entschädigungsfrage längst geklärt
Der reine Wert würde heute ohne Zinsen bei etwa sieben Milliarden Euro liegen, meint der Historiker. Die deutschen Kredite nach dem Krieg seien meistens mit sechs Prozent verzinst worden, doch selbst mit drei Prozent käme man auf einen dreistelligen Milliardenbetrag, gibt er zu bedenken. Ein Pluspunkt für die griechische Seite sei, dass die Nationalsozialisten den Tatbestand des Kredits auch anerkannt hätten.
Die Linkspartei SYRIZA, derzeit stärkste Oppositionskraft im griechischen Parlament, will die Koalitionsregierung aus Konservativen, Sozialisten und moderaten Linken unter Druck setzen - mit dem Ziel, Entschädigungsansprüche gegenüber Deutschland geltend zu machen. Parteichef Alexis Tsipras behauptet, er hätte das Thema bei seinem Treffen mit Finanzminister Wolfgang Schäuble im Januar angesprochen.
Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble erklärte vor wenigen Tagen in der "Neuen Osnabrücker Zeitung", die Entschädigungsfragen seien längst geklärt. Viel wichtiger, als die Leute mit solchen Geschichten in die Irre zu führen, sei es doch, "ihnen den Reformweg zu erklären", mahnte Schäuble.
In Athen haben diese Äußerungen hohe Wellen geschlagen. Außenminister Dimitris Avramopoulos erwiderte, es gebe keinen Zusammenhang zwischen den Reformen in Griechenland und den Reparationsforderungen. Dimitris Papadimoulis, Fraktionssprecher der größten Oppositionspartei Syriza, protestiert, dass der Bundesfinanzminister die Griechen vor das Dilemma "Entweder Reformen oder Reparationen" stelle. "Niemand bestreitet, dass die Griechen ihren Haushalt sanieren und den Staat reformieren sollen, aber das ändert nichts daran, dass Reparationsforderungen bestehen bleiben."
Auch in den griechischen Medien sind überspitzte Formulierungen über die Reparationsfrage keine Seltenheit: Die auflagenstärkste griechische Zeitung Ta Nea spricht sogar von einem "Kalten Krieg" zwischen Athen und Berlin.