Streumunition - die hinterhältige Waffe
23. Dezember 2015Der russische Militäreinsatz fordert hohe Opferzahlen. Seitdem die Streitkräfte im September mit ihren Angriffen in Syrien begonnen haben, wurden mindestens 2132 Menschen getötet. So berichtet es die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte. Deren Angaben sind zwar nicht überprüfbar, jedoch gilt die in London ansässige Organisation als vertrauenswürdig.
Auffallend ist die Klassifizierung der Opfer. Der Beobachtungsstelle zufolge starben bei den russischen Angriffen 598 Kämpfer des "Islamischen Staats" und 824 Mitglieder der "Al-Nusra-Front". Es starben aber auch 710 Zivilisten - unter ihnen 161 Kinder.
"Potenzielle Kriegsverbrechen"
Indirekt stützen die hohen Zahlen ziviler Opfer die von der Menschenrechtsorganisation Amnesty International erhobenen Vorwürfe, die russische Armee werfe international geächtete Streumunition und Bomben ohne Lenksysteme über dicht besiedelten Gebieten ab. Amnesty spricht von "Hunderten" ziviler Opfer.
"Einige der russischen Luftangriffe galten ganz direkt Zivilpersonen oder zivilen Objekten", sagt Philip Luther, bei Amnesty International für den Nahen Osten zuständig. "Es wurden Wohngebiete ohne nachweisliche militärische Ziele bombardiert, ja sogar medizinische Einrichtungen. Tote und Verletzte unter der Zivilbevölkerung waren die Folge. Solche Angriffe sind potenziell Kriegsverbrechen".
Eine geächtete Waffe
In rund hundert Staaten ist Streumunition geächtet. Den Anfang machte im Jahr 2005 Belgien, zwei Jahre später folgte Österreich. Im Mai 2008 wurde in Dublin eine Konvention zur Ächtung der Streubomben ausgehandelt. Diese wurde bislang von 97 Staaten ratifiziert und von weiteren 20 Staaten unterschrieben. Vier große Staaten - die USA, Russland, Indien und China - haben den Vertrag bislang nicht unterzeichnet.
Streumunition ist geächtet, da sie weitgehend unkontrolliert abgeworfen wird. Durch sie wird nicht ein einzelner vorher eigens identifizierter Gegner angegriffen, sondern alle Menschen, die sich im Zielgebiet befinden. Streumunition findet sich in Fliegerbomben, Artilleriegeschossen und in Sprengköpfen von Marschflugkörpern. Diese können verschiedenartige Ladungen enthalten - so etwa Explosions-, Brand- und Splitterbomben. Auch Bomben mit panzerbrechender Wirkung werden eingesetzt.
Bis zu 200 Sprengsätze pro Bombe
So werden nicht allein Militärs, sondern auch Zivilisten getroffen. In der Regel öffnet sich in einer gewissen Höhe ein Container, der bis zu 200 kleinere Sprengsätze freisetzen kann. Diese können sich über die Fläche von der Größe einiger Fußballfelder bis zu einigen hundert Hektar erstrecken. Sogenannte Kollateralschäden, also nicht beabsichtigte Verletzungen oder gar der Tod unbeteiligter Zivilisten, werden beim Einsatz von Streumunition bewusst in Kauf genommen.
Die einzelnen Sprengkörper sind meist nicht allzu groß. Dennoch entfalten sie gewaltige Kraft. Jeder von ihnen kann in einem Radius von bis zu 100 Metern tödliche Verletzungen hervorrufen. Andere Bomben schleudern Splitter in ihre Umgebung, die in einem Umkreis von 20 Metern tödlich und noch in 100 Metern gefährlich sind.
Bis zu 40 Prozent der Streumunition kommt beim Aufprall auf den Boden nicht zur Explosion. Die Blindgänger sorgen während und mehr noch nach dem Krieg für zahlreiche Opfer. Sie können teils nach Jahren noch explodieren. Ihre Wirkung ist darum der von Landminen vergleichbar. Neue Typen von Streumunition haben allerdings eingebaute Selbstzerstörungsmechanismen, die die Zahl der Blindgänger drastisch reduzieren sollen.
Seit dem Zweiten Weltkrieg in Gebrauch
Erstmals wurde Streumunition im Zweiten Weltkrieg verwendet. Sie wurde von Deutschland ebenso eingesetzt wie von den Alliierten. In den folgenden Jahren und Jahrzehnten waren Streubomben in nahezu jedem größeren Konflikt eingesetzt. In den 1960er und 70er Jahren etwa in Kambodscha und Vietnam, später in der Westsahara und im libanesischen Bürgerkrieg. Der Irak setzte sie in den 80er Jahren gegen den Iran ein; auch im zweiten Golfkrieg, nach der Invasion in Kuweit, griff das Militär auf sie zurück.
Die USA, Frankreich und Großbritannien warfen in diesem Krieg rund 60.000 Bomben mit bis zu 20 Millionen Sprengköpfen ab; die Bodentruppen der Anti-Saddam-Koalition könnten noch einmal weitere Bomben mit bis zu 30 Millionen Sprengköpfen eingesetzt haben. Nach dem Jahr 2000 wurden Streubomben unter anderem in Afghanistan, im Irak, im Libanon und im Sudan eingesetzt. Zuletzt fielen sie im Ukraine-Konflikt, im syrischen Bürgerkrieg und im Jemen.
Verheerende Wirkung
Die Verletzungen durch Streubomben sind oft sehr schwer. Die Initiative "Nein zu Streubomben" dokumentiert den Fall eines jungen Irakers namens Wahid. Der damals Neunjährige ging kurz nach dem Ende des zweiten Golfkriegs mit seinem Bruder spazieren, als den beiden ein glänzender Sprengkopf aus einer Streubombe auffiel. Als Wahid den Behälter aufhob, explodierte dieser. Der Junge wurde schwer verwundet, berichtet die Initiative: "Die rechte Hand abgerissen, drei Finger der linken Hand amputiert. Der Körper von Metallsplittern durchlöchert, vor allem ein Knie, der linke Fuß und sein Oberkörper und Kopf sind betroffen." In anderen Fällen wurden auch die inneren Organe der Opfer verletzt.
Trotz der Anti-Streumunition-Konvention werden diese Waffen weiterhin eingesetzt. Seit dem 1. Juli 2014 wurden sie laut dem zivilgesellschaftlich verantworteten Streubomben-Monitor in fünf Ländern verwendet: in Libyen und Syrien, im Sudan und im Jemen sowie in der Ukraine. Keines dieser Länder hat das Abkommen unterzeichnet. Die meisten Opfer gab es in Syrien: Dort wurden nach Angaben des Streubomben-Monitors zwischen 2012 und 2014 insgesamt1968 Menschen durch diese Waffen getötet oder verletzt. Auch in diesem Jahr wird die Waffe in Syrien offensichtlich weiter eingesetzt.