Sudan: Ein Land am Abgrund
14. Juni 2023Es steht nicht gut um den Sudan. Das Land befindet sich am Rand einer humanitären Katastrophe. "Wir laufen Gefahr, auf eine Hungersnot zuzusteuern", sagt Muzan Alneel, im Gespräch mit der DW. Sie ist Mitbegründerin des Think Tanks ISTiNAD im Sudan und ehemalige Mitarbeiterin des Tahrir-Instituts für Nahostpolitik. Die Forscherin warnt, die Ressourcen des Landes nähmen rapide ab.
Auf den Feldern sei infolge des Konflikts kein Saatgut gesetzt worden, weshalb nun Ernteausfälle drohten. Nun hofft Alneels darauf, dass Hilfsorganisationen und private Geber Mittel und Saatgut für die Landwirte bereitstellen. "So ließe sich das Risiko einer Hungersnot im Herbst und Winter verringern."
Rund zwei Monate ist es inzwischen her, dass Kämpfe zwischen den sudanesischen Streitkräften unter der Führung von General Abdel Fattah al-Burhan und den paramilitärischen Rapid Support Forces (RSF) unter der Führung von General Mohammed Hamdan Dagalo, genannt Hemeti, ausbrachen. Hemeti hatte sich geweigert, seine Truppen in die reguläre Armee eingliedern zu lassen. Nach einer 24-stündigen Waffenruhe am Wochenende waren die Kämpfe erneut ausgebrochen.
Die Auseinandersetzungen spielen sich vor allem in der Hauptstadt Khartum und in der ohnehin konfliktreichen Region Darfur ab und haben die sudanesische Wirtschaft nahezu zum Erliegen gebracht. Eine galoppierende Inflation, ein kollabierendes Finanzsystem sowie der Mangel an Wasser, Lebensmitteln, Strom, Medikamenten und medizinischem Personal verschärfen die Situation zusätzlich.
Angaben des sudanesischen Gesundheitsministeriums zufolge haben die Kämpfe bislang rund 800 Todesopfer und mindestens 6.000 Verletzte gefordert. Die tatsächlichen Zahlen dürften jedoch um ein Vielfaches höher liegen, da viele Opfer nicht gemeldet werden. Leichname werden nicht verlässlich erfasst, weil die Umstände dies nicht zulassen.
Zermürbungskrieg hinterlässt Geisterstädte
"Unsere Nachbarschaft ist wie eine Geisterstadt", sagte Yasir Zaidan, Forscher an der Nationalen Universität im Sudan. Ihm selbst ist es gelungen, mit dem Schiff aus dem Land zu fliehen. Derzeit lebt er in Saudi-Arabien.
Ein Nachbar sei geblieben, sagt Zaidan der DW. Dieser habe ihm über Facebook die jüngsten Neuigkeiten mitgeteilt: "Die paramilitärischen Rapid Support Forces haben die gesamte Nachbarschaft geplündert. Sie sind auch in unser Haus eingebrochen."
Neben Geld oder Gold seien die Milizen womöglich auch auf der Suche nach Autoschlüsseln. "Sie nehmen private Autos, um Waffen und ihre Leute zu transportieren", so Zaidan. Sein eigener Wagen sei von einer Kugel getroffen worden. Die Heckscheibe sei eingeschlagen. Doch immerhin stehe das Auto noch vor dem Haus.
"In den letzten zwei Monaten hat sich der Machtkampf zugespitzt", sagt Hager Ali, Wissenschaftler am Deutschen Institut für Globale und Regionale Studien. "Die Kämpfe in Khartum werden nicht allein durch Feuerkraft entschieden. Ein eindeutiger Sieg für eine der beiden Seiten scheint mir ausgeschlossen."
Ähnlich sieht es auch Theodore Murphy, Afrika-Experte beim European Council on Foreign Relations. "Der Krieg hat sich zu einer Zermürbungsschlacht entwickelt, deren Ausgang davon abhängt, welche Seite die meiste Unterstützung mobilisieren kann."
Diese Unterstützung könne sowohl von außen kommen, durch Geld- und Waffenspenden regionaler Akteure, - als auch von innen, etwa durch einzelne Stammesgruppen, die Kämpfer für eine der beiden Seiten rekrutierten. "Dies lässt auch den ethnisch motivierten, schon vorher bestehenden lokalen Konflikt in West-Darfur neu aufleben."
Plünderungen und Vergewaltigungen in Darfur
Im Westen der Provinz Darfur war zu Beginn des neuen Jahrtausends ein gewaltsamer Konflikt zwischen unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen und der Regierung ausgebrochen. Es kam zu Gewalt zwischen afrikanischen Stämmen und Rebellengruppen einerseits und Staat und Regierung andererseits, unterstützt durch arabische Reitermilizen. In dem von zahlreichen Menschenrechtsverbrechen geprägten Krieg starben rund 300.000 Zivilisten.
Der damalige Präsident Omar al-Baschir und die als "Dschandschawid" bekannten Reitermilizen wurden vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag in Abwesenheit wegen Massentötungen und Vergewaltigungen angeklagt. Die Dschandschawid wurden später zu den Schnellen Eingreiftruppen (RSF) - eben jener Gruppe, die sich nun gegen die Armee erhoben hat.
In jüngster Zeit hat sich der Konflikt in Darfur wieder verschärft. Das UN-Büro für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten bestätigte Berichte über willkürliche Tötungen unbewaffneter Zivilisten, Plünderungen und Vergewaltigungen. Die Zeugen beschuldigen sowohl die Rapid Support Forces wie auch die sudanesischen Streitkräfte - letztere allerdings in geringerem Maße.
Die UN-Organisation berichtete unter anderem, bei einem Angriff in der Stadt Kutum in Nord-Darfur Anfang Juni sei eine unbestätigte Zahl von Zivilisten getötet und verletzt worden, darunter Binnenvertriebene in einem Flüchtlingslager. Zudem machten auch wieder Berichte von Massenvergewaltigungen in Darfur die Runde, erklärte Adjaratou Ndiaye, UN-Frauenbeauftragte im Sudan, kürzlich gegenüber der Nachrichtenagentur AFP.
Marodieren, Plündern, Niederbrennen
"Der Umstand, dass sich die Kämpfe wieder stärker auch nach Darfur verlagern, bringt den Rapid Support Forces eine Art Heimvorteil", meint Experte Hager Ali. Viele stammten aus dieser Region. "Die von den Milizen praktizierte Taktik des Marodierens, Plünderns und Niederbrennens von Gebäuden funktioniert in einem Umfeld wie Darfur besser als in Khartum, wo eher die sudanesischen Streitkräfte leichte Oberhand haben." Viele RSF-Kämpfer seien vor Ausbruch des Kriegs im April noch nie in der sudanesischen Hauptstadt gewesen. Ali befürchtet nun die "Umwandlung des laufenden militärischen in einen ethnischen Konflikt".
Aus dem Englischen adaptiert von Kersten Knipp.