Syrien: Tötungen, Folter und Verschwindenlassen
7. Juli 2023Ende Februar dieses Jahres erhielt die Familie von Abdullah Mohammad al-Razouqi Gewissheit: Der junge Mann war tot, verstorben im Militärgefängnis Sednaya im Gouvernement Damaskus. Fünf Jahre zuvor, 2018, war er von syrischen Regimetruppen verhaftet worden. Seitdem bestritten die Behörden der syrischen Regierung unter Machthaber Baschar al-Assad, dass er sich im Gefängnis befinde. Weder Anwälte noch seine Familie hatten Kontakt zu ihm.
Ob das Assad-Regime al-Rzouqi bewusst hat sterben lassen? Das sei nicht zu beweisen, aber zu vermuten, schreibt das in Großbritannien ansässige und mit den Vereinten Nationen kooperierende Menschenrechtsnetzwerk "Syrian Network for Human Rights" (SNHR) in seiner Dokumentation des Falles. "Wir können bestätigen, dass er bei seiner Verhaftung bei guter Gesundheit war, was es sehr wahrscheinlich macht, dass er aufgrund von Folter und medizinischer Vernachlässigung gestorben ist."
Folter und willkürliche Verhaftungen
Auch 13 Jahre nach Beginn des Aufstands in Syrien, der in den meisten Landesteilen längst brutal niedergeschlagen ist, leiden dort viele Menschen noch immer unter der Willkür ihrer Regierung. Den harten Kurs, den das Assad-Regime zur Unterdrückung des Aufstands gefahren hatte, setzt es weiter fort. Allein für die erste Hälfte des Jahres 2023 hat das SNHR 501 Fälle von Tod durch Folter dokumentiert. Unter den Opfern befinden sich 71 Kinder und 42 Frauen.
Auch seine Praxis willkürlicher Verhaftungen pflegt das Regime weiter. Für das laufende Jahr hat das SNHR 1407 entsprechende Fälle dokumentiert- unter ihnen 43 Kinder und 37 Frauen. Insgesamt, so das SNHR, seien in Syrien seit 2011 rund 155.000 Personen verschleppt worden.
"Al-Assad hat Verhalten nicht geändert"
"Die Mentalität des Regimes ist dieselbe geblieben", sagt Fadel Abdul Ghany, der Chef des SNHR im DW-Interview. "Es hat sein Verhalten nicht verändert. Solange er an der Macht bleibt, wird Assad gegen die Menschenrechte verstoßen. Das Leid der syrischen Bevölkerung interessiert ihn nicht."
So sehen sich viele Syrer einer unberechenbaren Willkür ausgesetzt. Sicher können sich Menschen in Syrien offenbar nirgends fühlen, wie auch der Fall von Khaleif Homsi zeigt, ebenfalls dokumentiert vom SNHR. Homsi wurde am 27. Juni dieses Jahres in seiner Heimatstadt Sabikhan im Osten des Gouvernats Deir ez-Zor von Unbekannten erschossen. Das Gebiet steht unter der Kontrolle des Assad-Regimes. Derzeit versuche man, Augenzeugen zu finden, heißt es seitens des SNHR. "Wir fordern die Kontrollorgane auf, ihrer Verantwortung für den Schutz der Zivilbevölkerung in ihren Gebieten zu entsprechen, den Vorfall zu untersuchen und die Ergebnisse der Untersuchung der Öffentlichkeit bekannt zu geben.", heißt es auf der Website.
Menschenrechtsverletzungen anderer Akteure
Das SNHR dokumentiert auch die Gewalt anderer Akteure, so etwa der bewaffneten Oppositionsgruppen einschließlich dschihadistischer Gruppen. Eines ihrer Opfer ist Abdul Karim Ahmad al-Shabeib aus dem Gouvernement Idlib. Er wurde im November 2021 von Milizen der dschihadistischen Gruppe "Hayat Tarhrir al-Sham" festgenommen. Im März dieses Jahres kam dann Nachricht vom Tod des 33-Jährigen.
Ebenso dokumentiert das SNHR Menschenrechtsverstöße der iranischen und russischen Kräfte im Land, die mit dem Assad-Regime zusammenarbeiten und es militärisch unterstützen.
Auf diese Gruppen - die bewaffnete syrische Opposition einschließlich Dschihadisten sowie al-Assads iranische und russische Verbündete - falle insgesamt aber ein vergleichsweise kleiner Anteil der Menschenrechtsvergehen, so das SNHR. Der größte Teil - nämlich 88 Prozent aller seit 2011 dokumentierten Verbrechen - gehe unmittelbar auf das Konto des Assad-Regimes, so SNHR-Chef Fadel Abdul Ghany.
Auswärtiges Amt: Lage "katastrophal"
Vor diesem Hintergrund erstaunt es kaum, dass auch das deutsche Auswärtige Amt die Menschenrechtslage in Syrien als "katastrophal" beurteilt, wie die Tagesschau kürzlich aus einem internen Lagebericht des Amtes zitierte.
Ihre Organisation teile die Einschätzung des Auswärtigen Amts, sagt Rebekka Rexhausen, Syrien-Expertin bei Amnesty International. Insbesondere durch die Unterstützung durch Russland und Iran habe sich Assad bisher zu keinen Zugeständnissen gezwungen gesehen. "Bombardierungen auch ziviler Ziele wie Krankenhäuser oder Schulen, das Andauern von Zwangsrekrutierungen, willkürlichen Festnahmen, Folter und Todesurteile ohne vorhergehendes Gerichtsverfahren sind weiter an der Tagesordnung. Ein weiteres Beispiel sind die unzähligen Verschwundenen."
Licht in das Foltersystem des syrischen Prozesses hatte in Deutschland auch der Prozess gegen zwei Angehörige des syrischen Geheimdienstes in Koblenz gebracht.
Amnesty: Auch Unbeteiligte nicht sicher
Besonders bedroht seien weiterhin zwar vor allem Regimekritiker und Aktivisten, so Rexhausen. Allerdings seien auch Unbeteiligte und politisch inaktive Menschen nicht sicher. "Sie sind beispielsweise weiter von Zwangsrekrutierungen bedroht sowie von den andauernden Angriffen auf zivile Ziele und den Abschreckungsstrategien der Assad-Regierung, welche sich etwa in willkürlichen Inhaftierungen äußern."
Gefährdet seien durchaus auch Flüchtlinge oder Vertriebene, die in ihr Land zurückkehrten. "Unseren Recherchen zufolge werden alle syrischen Geflüchteten von den syrischen Geheimdiensten potenziell als Gegner von Präsident Baschar al- Assad und als 'Verräter' betrachtet." Rückkehrer seien damit besonders gefährdet, zu Opfern von Folter, Haft und Verschwindenlassen zu werden, so die Menschenrechtlerin und Syrien-Expertin. Sie meint: "Auch deshalb ist eine Rückkehr von Flüchtlingen nicht möglich!" Die Menschenrechtsverletzungen gegenüber zurückgekehrten Flüchtlingen hat Amnesty International in einem eigenen Report dokumentiert.
Zurück auf internationaler Bühne
Die Menschenrechtsverletzungen finden zu einer Zeit statt, da sich das Regime um eine Rückkehr auf die internationale Bühne bemüht. Das tut es teilweise durchaus mit Erfolg: So nahm die Arabische Liga das Land im Mai dieses Jahr wieder in ihre Reihen auf, nachdem es dessen Mitgliedschaft über zehn Jahre suspendiert hatte.
Dieser Schritt sei frustrierend, sagt Menschenrechtler Fadel Abdul Ghany. Denn er bedeute, dass Assad sich von jeder Verantwortung für Menschenrechtsverbrechen freigesprochen sehe. "Das ermutigt ihn, fortzufahren wie bisher. Ihm geht es vor allem darum, Forderungen nach einem demokratischen Wandel ein für allemal zu beenden." Der syrische Machthaber wolle sicherstellen, dass seine Familie das Land weiterhin beherrsche, und bereite bereits seinen Sohn auf das Präsidentenamt vor.
Ähnlich sieht es Rebekka Rexhausen von Amnesty International: Die Zeichen aus Damaskus deuteten nicht auf eine wirkliche Verhaltensänderung des Regimes hin. So sende die nicht nur im arabischen Raum zu beobachtende Tendenz zu einer Normalisierung der Beziehungen mit Syrien das verheerende Signal, dass die internationale Gemeinschaft nicht im Stande oder nicht willens genug sei, al-Assad und weitere Verantwortliche für Menschenrechtsverletzungen zur Rechenschaft zu ziehen, so Rexhausen. "Diese Fortschreibung der Straflosigkeit bestärkt nicht nur al-Assad selbst. Sie bestärkt auch andere Autokratien weltweit darin, Verbrechen gegen die Menschlichkeit als Mittel der Repression einzusetzen."