Historisch, aber ohne Tonaufzeichnung
14. Januar 2022Der Al-Khatib-Prozess in Koblenz war ein Mammutverfahren. Knapp zwei Jahre hat es gedauert; an insgesamt 108 Verhandlungstagen wurden rund 80 Zeugen gehört; es wurden Gutachten abgegeben, Beweismaterial gesichtet. Es wurde immense Arbeit geleistet. Zu Recht wird in Zusammenhang mit diesem ersten Gerichtsverfahren weltweit über das syrische Unterdrückungssystem das Prädikat "historisch" verwendet. Aber keine der von den Folterüberlebenden unter großen persönlichen Opfern gemachten Aussagen wurde aufgezeichnet, keines der Plädoyers, keine Befragung der ermittelnden Polizisten von der "War Crime Unit" des BKA, nichts. Gegenüber der DW hält der Berliner Strafrechtsprofessor und Rechtsphilosoph Boris Burghardt das für "bedauerlich, unverständlich und auch rechtlich nach der jetzt geltenden Rechtslage für falsch".
Drei Anträge, drei Ablehnungen
Es gab mindestens drei Anträge für Tonaufzeichnungen im Gerichtssaal, alle drei wurden vom zuständigen Strafsenat abgelehnt. Er verwies dabei auf den Zeugenschutz sowie auf eine mögliche Beeinflussung des Aussageverhaltens.
Die Koblenzer Richter haben sogar einen Antrag abgelehnt, die Schlussanträge aufzuzeichnen, die Plädoyers von Bundesanwaltschaft, Nebenklägern und Verteidigung. Die Begründung: Es fehle die nach derzeitiger Rechtslage erforderliche "herausragende zeitgeschichtliche Bedeutung für die Bundesrepublik". Für Syrien möge der Prozess diese Bedeutung haben, räumte das Gericht ein, für die Bundesrepublik aber nicht.
Rechtsphilosoph Burghardt widerspricht. Allein dass dieses Verfahren auf Grundlage des Weltrechtsprinzips durchgeführt werde, zeige schon die herausragende Bedeutung: "Wenn Deutschland stellvertretend für die Weltgemeinschaft eine Strafverfolgung betreibt, weil es sich um Verbrechen handelt, die so schwerwiegend sind, dass die Weltgemeinschaft als Ganze betroffen ist, dann ist es sehr befremdlich zu sagen: 'Syrien, die arabische Welt, im Grunde die ganze Welt interessiert dieses Verfahren. Deswegen dürfen wir das auch betreiben, obwohl es nichts mit der Bundesrepublik zu tun hat.' Aber wenn es darum geht, ob wir das Ganze aufzeichnen, machen wir jetzt nur eine Nabelschau und gucken nur auf uns, interessiert es uns."
Gesetz lässt Aufnahmen zu
Dabei besteht seit April 2018 mit einer Änderung des Gerichtsverfassungsgesetzes eine juristische Grundlage für Tonaufnahmen zu wissenschaftlichen und historischen Zwecken. In der Begründung des Gesetzes wird dezidiert anerkannt, dass ein "hohes öffentliches Interesse" an der Dokumentation einiger Verfahren besteht.
Welche historische Bedeutung Tonaufnahmen aus Gerichtssälen darstellen können, zeigen zum Beispiel die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse nach dem Zweiten Weltkrieg, die Auschwitz-Prozesse in Frankfurt in den 1960er Jahren oder die Prozesse in Stuttgart-Stammheim gegen Linksterroristen der "Rote-Armee-Fraktion": Von diesen Prozessen wurden Aufzeichnungen gemacht; sie sind wichtige Dokumente der Zeitgeschichte.
Die Ampel-Koalition will das Problem angehen. Auf Seite 107 des Koalitionsvertrages wird angekündigt, künftig Beweisaufnahmen audio-visuell dokumentieren zu wollen. In zahlreichen anderen Ländern ist das bereits gängige Praxis. In Deutschland nach geltendem Recht aber eben noch der eng begrenzte Ausnahmefall. Viele Beobachter sehen daher in den fehlenden Aufzeichnungen von Koblenz eine verpasste Chance.