Szenen einer Demokratie: Das britische Unterhaus
Es gilt als "Mutter aller Parlamente" - das House of Commons, dessen Ursprünge ins Jahr 1264 zurückreichen. In den Brexit-Debatten ist also viel Tradition enthalten - aber oft auch Shakespearesche Dramatik.
Regierung gegen Parlament
Da ist einer ordentlich sauer: Gerade hat das Unterhaus Premierminister Boris Johnson eine herbe Niederlage zugefügt. Statt sich auf die angeordnete Parlamentspause vorzubereiten, stimmten die Abgeordneten für ein Gesetz, das einen No-Deal-Brexit ausschließt. Das zeigt, dass auch in Großbritannien die Parlamentarier die wahren Herrscher sind. So funktioniert Demokratie.
Mehr Drama geht kaum
Ein Bild wie ein flämisches Gemälde: Der große Gegenspieler Boris Johnsons ist Parlamentspräsident John Bercow, der ironischerweise ebenfalls der konservativen Partei angehört. Doch der - der vom "Guardian" schon als Obi Wan Bercow bezeichnete "Speaker" - wehrte sich dagegen, dass Johnson das Unterhaus mundtot macht. "Bis zum letzten Atemzug" werde er für die parlamentarischen Rechte kämpfen.
Der Überläufer
Manchmal ändern sich Mehrheiten in nur einem Augenblick. Boris Johnson verlor seine hauchdünne Mehrheit im Unterhaus, während er redete. Kurz nachdem Johnson mit einer Erklärung begonnen hatte, verließ der Tory-Abgeordnete Phillip Lee die Bänke der Regierungsfraktion und nahm demonstrativ zwischen den Oppositions-Abgeordneten Platz. Das nennt man wohl "ein Zeichen setzen".
Der coole Snob
Als ob ihn das alles nichts anginge: Der radikale Brexit-Befürworter Jacob Rees-Mogg lehnt sich während der Dringlichkeitsdebatte über ein neues Gesetz, das einen Brexit ohne Abkommen mit der EU verhindern soll, demonstrativ gelangweilt in seiner Parlamentsbank zurück. Dabei ist er der Vorsitzende des Unterhauses - mit Ministerrang in Boris Johnsons Kabinett.
Das Bild, das um die Welt ging
Das Foto des sich hinfläzenden Rees-Mogg ging in Minutenschnelle um die Welt. Gepostet hatte es die Labour-Abgeordnete Anna Turley. Sie tweetete das Bild mit dem Kommentar, Rees-Mogg sei "die Verkörperung von Arroganz, Dünkel, Respektlosigkeit und Geringschätzung unseres Parlaments". Viele regten sich auf, andere sahen darin eine Referenz zu Tischbeins Gemälde "Goethe in der Campagna".
"Die spinnen alle..."
"... und ich bin ihr Chef", seufzte der aus den Asterix-Bänden bekannte Gallier-Häuptling Majestix öfter mal. Das scheint auch Boris Johnson zu denken und macht eine Geste, die wenig mit dem Amt eines Premierministers gemein hat - zumal an solch einem traditionsreichen Ort. Aber wer erwartet schon, dass sich der Blondschopf an Konventionen hält. Seine Sitznachbarn zumindest nicht...
Eine hat gut lachen!
Während die Brexit-Debatten auf die meisten konservativen Abgeordneten eher verstörend wirkten, hat zumindest eine Tory-Politikerin augenscheinlich gut lachen: Johnsons Vorgängerin Theresa May, die froh sein dürfte, dass sich jetzt jemand anderes eine blutige Nase holt. Ob der neben ihr sitzende aus der Tory-Fraktion ausgestoßene Kenneth Clarke lacht oder weint, scheint noch nicht ausgemacht.
Eng, laut und mit roten Linien
Viele Parlamente sind als Halbkreis angelegt, rund um ein Redepult. Hier sitzen die Parlamentarier einander gegenüber. Es ist eng; für 650 Abgeordnete gibt es nur 427 Sitzplätze. Sie reden sich mit "the Right Honourable" an und beleidigen sich nur einen Atemzug später. Am Boden sind rote Linien, die nicht übertreten werden dürfen - aus einer Zeit, in der man noch mit Schwert ins Unterhaus zog.
"Ooooordeeerrr!"
Er ist der Dompteur des Ganzen: John Bercow, der mächtige "Speaker". Er bestimmt über die Tagesordnung, erteilt das Wort, maßregelt. Und das immer mit eine Prise britischen Humors. Als ein Tory-Kollege ihm vorwarf, er fahre mit einem Anti-Brexit-Aufkleber auf seinem Auto herum, konterte Bercow, der Wagen sei seiner Frau. Sein modisches Markenzeichen sind grelle, altmodische Krawatten.
"The ayes to the right..."
Auch die Abstimmungen folgen einem fast archaischen Ritual. Die Abgeordneten verlassen den Raum und treten durch unterschiedliche Türen wieder ein: diejenigen, die einem Antrag zustimmen, kommen von rechts ("The ayes to the right..."), diejenigen, die ihn ablehnen von links ("The nos to the left..."). Vier Mandatare zählen die eintretenden und geben das Ergebnis an den Speaker weiter.
Quo vadis, Boris?
Kein No-Deal-Brexit, keine Neuwahlen. Das Unterhaus hat den neuen Premier ordentlich zurechtgestutzt. Dass der das auf sich sitzen lässt, glaubt in London keiner. Und so heißt es auch im britischen Politikgeschehen: Nach der Unterhaussitzung ist vor der Unterhaussitzung. Das ist so sicher, wie die "Order"-Rufe des Speakers.