Tabea Kemme will Turbine-Präsidentin werden
16. Juni 2021Mit ihrem weiß-ozeanblauen VW-Bully kommt Tabea Kemme zum Termin am Potsdamer Luftschiffhafen. Der Bus ist quasi ihr Markenzeichen, seit sie ihn 2016 von ihrer Olympia-Siegprämie kaufte und selbst renovierte. In Zukunft soll man ihn wieder öfter in Potsdams Leistungssportzentrum sehen, in dem die Fußballerinnen von Turbine Seite an Seite mit vielen anderen Sportlern trainieren.
Der Luftschiffhafen war jahrelang ihr Zuhause. Hier ging sie den Weg vom Nachwuchs bis zur Nationalspielerin. Nach eineinhalb Jahren in London und ihrem verletzungsbedingten Karriereende mit 28 Jahren kehrte Kemme nach Potsdam zurück. Hier verfolgt sie ihren neuen Plan: Präsidentin von Turbine Potsdam zu werden.
Dass sie damit Deutschlands erste Frau an der Spitze eines Bundesligisten überhaupt würde, ist für Kemme eine Nebensächlichkeit. Sie möchte ihrem Ex-Verein, für den sie über 200-mal spielte, zu alter Strahlkraft verhelfen: "Die letzten acht Jahre hat der Klub ambitioniert die Champions League angepeilt und dies nicht geschafft, also acht Jahre das Ziel verfehlt", analysiert Kemme die sportliche Entwicklung. "Da sehe ich extremen Handlungsbedarf."
Oberstes Ziel: Kommunikation auf Augenhöhe
Ein Hauptaugenmerk möchte Tabea Kemme auf den Umgang mit den Spielerinnen legen, auf die tägliche Wertschätzung. "Mit dem Wechsel nach England habe ich erst das Bewusstsein bekommen, wie es laufen kann, wie es laufen muss, wenn ich professionellen Fußball spielen will", schwärmt sie über die Erfahrungen, die sie beim FC Arsenal sammeln durfte - obwohl sie auf Grund ihrer Knieverletzung nur drei Spiele für die Londonerinnen absolvierte.
"Ich wurde beispielsweise vom Trainer gefragt: 'Tabea, wie geht es dir? Wo sind deine Stärken? Was denkst du über das System? Wie können wir hier noch besser interagieren?'", schwärmt Kemme von der Kommunikation "zwischen ihm als Trainer und mir als Spielerin. Das kannte ich vorher nicht. Gar nicht."
Rund um das Bundesliga-Team und in der Turbine-Geschäftsstelle möchte Kemme die Strukturen professionalisieren und die Arbeit auf mehr Schultern verteilen als bisher. Dabei möchte sie versuchen, weitere Ex-Spielerinnen in die Vereinsarbeit zu integrieren, was bisher bei den Potsdamerinnen wenig verfolgt wurde: "Ich habe mit vielen ehemaligen Spielerinnen Kontakt gehabt, die hier auch das Potenzial sehen, die auch dieses Engagement haben, im Verein Tätigkeiten zu übernehmen", sagt Kemme.
Strukturen erneuern und aufbauen
Anfang der 2000er-Jahre hatte der Verein aus Brandenburgs Landeshauptstadt seine erfolgreichste Zeit. Die "Turbinen" gewannen alles - und das mehrfach. Sechsmal wurden sie Deutsche Meisterinnen, dreimal holten sie den DFB-Pokal, und zweimal krönten sie sich sogar zu Champions-League-Siegerinnen.
Doch seit 2012 haben sie in Potsdam ein wenig den Anschluss verloren. In dieser Zeit erhöhten immer mehr Lizenzvereine der Männer ihr Engagement im Frauenfußball. Zum Abschluss der gerade beendeten Saison war Potsdam der einzige reine Frauenfußball-Verein in der oberen Tabellenhälfte der Bundesliga.
Erste Schritte zu besseren Strukturen leitete der amtierende Vorstand vor einem Jahr ein, als er mit dem Ex-Bundesliga-Profi Sofian Chahed wieder einen hauptamtlichen Trainer verpflichtete. Auf seinen Schultern liegt bei Turbine aktuell die alleinige sportliche Verantwortung. "Für die sportlichen Bereiche, die Trainingspläne, das Individualtraining, die Abstimmung mit den Nachwuchstrainern in Sachen Spielsystem", erläutert Potsdams Präsident Rolf Kutzmutz die Aufgabenteilung: "Dafür ist der Cheftrainer zuständig."
Über Jahrzehnte erfüllte Bernd Schröder all diese Aufgaben, war bis zu seinem Abschied 2016 das Gesicht des Vereins. Sein Nachfolger Matthias Rudolph war dann über vier Jahre nur als Teilzeit-Trainer aktiv. "Wenn man halbtags in einer Schule arbeitet und halbtags bei einem Verein", analysiert Kutzmutz rückblickend, "dann muss irgendwo etwas liegen bleiben. Und das war bei uns der gesamte Bereich der Nachwuchsarbeit." Der hatte zuvor das Rückgrat des Frauenteams gebildet. So hatte allein die B-Jugend der Potsdamerinnen elf Meisterschaften gewonnen.
Kemme-Wahlkampf als Teamlösung
Für ihre Kandidatur hat Kemme ein Unterstützerteam von acht Personen um sich geschart, darunter Vertreter aus Wirtschaft und Politik, eine Medienfachfrau, zwei Mitglieder des aktuellen Turbine-Vorstands - und Ex-Coach Rudolph. Er soll mit seiner Erfahrung als Trainer und Lehrer die Zusammenarbeit der Potsdamerinnen mit der Sportschule und den Auswahlteams des Brandenburger Landesverbands wieder stärken.
Kemme selbst möchte als ehrenamtliche Präsidentin die Rahmenbedingungen schaffen. Das Tagesgeschäft will sie jedoch nicht leiten - auch aus Zeitgründen. Denn die umtriebige Ex-Spielerin arbeitet 30 Stunden pro Woche an der Hochschule der Brandenburger Polizei. Darüber hinaus absolviert sie noch bis Oktober an drei Abenden pro Woche ein Fernstudium in "Football Analytics and Leadership".
Im zurückliegenden Frühjahr reiste Kemme für die soziale Fußball-Initiative "Common Goal" zu Projekten in Ghana. Und als wäre das noch nicht genug, gehört die Olympiasiegerin von 2016 auch zu den Gründungsmitgliedern der kürzlich aus der Taufe gehobenen "Female Football Academy" in Berlin, die den Frauenfußball in Deutschland voranbringen will.
Mit ihren Erfahrungen als Spielerin in Potsdam, aus ihrer Zeit in England und den Inhalten ihres Studiums möchte Tabea Kemme einen Generationswechsel bei Turbine einleiten. Ob ihr die Mitglieder den Auftrag erteilen, entscheidet sich auf der Mitgliederversammlung des Vereins am 18. Juni.