Kulturhauptstadt Tallinn
8. Januar 2011Etwa 20.000 Kinder und Jugendliche aus ganz Europa werden Anfang Juli 2011 einen riesigen Chor auf der Sängerfestwiese in Tallinn bilden. Sie werden moderne und traditionelle estnische Lieder singen. Das werde der Höhepunkt des Jahres werden, in dem Tallinn Europäische Kulturhauptstadt ist, sagt Maris Hellrand. Die Kommunikationsexpertin organisiert in der Stiftung Tallinn2011 die zahlreichen Projekte der Kulturhauptstadt. "Wer gar nichts über Estland weiß, der kann an diesem einen Wochenende des Jugend-Sängerfestes alles über Estland lernen. Das ist, was uns Esten ausmacht", schwärmt Maris Hellrand.
Wer Esten singen hört, blickt in ihre Seele, sagt man. Und in der Tat habe Chorgesang in der estnischen Geschichte eine wichtige Rolle gespielt, erläutert Aarne Saluveer, der Präsident der estnischen Chorvereinigung. "So haben wir unsere Geschichte bewahrt und überliefert. Manche Gesänge sind Tausende von Jahren alt", so der Dirigent. Singen war eine Form des Widerstands gegen die sowjetische Besatzung Ende der 1980er-Jahre. Das neue Nationalgefühl der Esten wurde durch Chormusik transportiert. Die "Singende Revolution" habe zum Zusammenbruch des kommunistischen Systems beigetragen, erzählt Aarne Saluveer stolz.
Mehr vom Meer
Hauptthema der Projekte in der estnischen Hauptstadt sind "Geschichten vom Meer". "Über das Meer sind alle Eroberer und die Kultur zu uns gekommen", sagt Maris Hellrand von der Stiftung Tallinn2011. Wikinger, Deutsche, Schweden, Dänen und Russen - alle haben ihre Spuren in dem kleinen baltischen Staat mit nur 1,3 Millionen Einwohnern hinterlassen. "Die letzten 50 Jahre haben wir mit dem Rücken zum Meer gelebt, weil die Sowjets die Hafenanlagen zum militärischen Sperrgebiet erklärt hatten", erzählt Maris Hellrand. Eine richtige Uferpromenade, die die mittelalterliche Altstadt mit der Ostsee verbindet, gibt es bis heute nicht. Das soll die Kulturhauptstadt ändern: Zwischen dem neuen Meeresmuseum und einer Sportanlage aus sowjetischer Zeit entsteht ein "Kulturkilometer" mit vielen Attraktionen und Installationen, mit Musik und einem Café aus besprühten Seecontainern. Das Meeresmuseum in einem ehemaligen Hangar für Wasserflugzeuge wird erst im Sommer fertig.
Sparen und Improvisieren
Wegen der Wirtschaftskrise, die Estland 2008 getroffen hat, mussten das Budget gekürzt und die Baumaßnahmen gestreckt werden. Von den ursprünglich geplanten 40 Millionen Euro blieben nur 16 Millionen übrig. Alles fällt ein wenig bescheidener aus: Das Organisationsbüro arbeitet in einer angemieteten unrenovierten Büroetage mit improvisierten Möbeln. Die Tallinn-Stiftung verläßt sich auf rund 800 Freiwillige, die bei Projekten und Ausstellungen die Besucher betreuen. Viele Studenten wie Evelin Tamm haben sich gemeldet, weil sie den Besuchern ihre Stadt zeigen wollen. Evelin Tamm, die am Strand nahe Tallinn wohnt und auch in Deutschland studiert hat, will ihre eigene Geschichte vom Meer erzählen: "Die Luft ist anders. Die Menschen sind anders am Meer. Hier kann man sich besser entspannen."
Virtuelle Tore
Überall in Tallinns malerischer Altstadt sollen im Sommer virtuelle Stadttore entstehen. Das ist eines der Projekte, für die das nationale Kunstmuseum Estlands verantwortlich ist. Die Direktorin des Kunstimuuseum, Anu Livak, erklärt: "Das werden Stadttore sein, die man nicht im klassischen Sinne sehen kann. Die Künstler eröffnen die Möglichkeit, durch diese Tore in eine andere Realität zu gelangen." Das Kunstimuusum will so zeitgenössische Videokünstler fördern. Außerdem bietet es in einem weitläufigen Park Foto- und Grafikausstellungen zum Thema "Geschichten vom Meer". Im Januar startet zum Beispiel die 15. Druck-Triennale in Tallinn, zu der unter anderem ein US-Armeefahrzeug vom Typ "Hammer" ganz aus Briefmarken gehört.
Das etwas andere Hotel
Im Januar eröffnet auch Peep Ehasalu sein Museum, das eine ganz besondere Geschichte erzählt. Der Hotelmanager zeigt im Hotel "Viru", einem klotzigen 20 Stockwerke hohen Gebäude aus Sowjetzeiten, wie der russische Geheimdienst und die Partei das Hotelleben bestimmten. Im zweiten Stock hatte der KGB seine Spitzelzentrale und hörte Hotelgäste in ihren Zimmern oder im Restaurant ab. Im obersten Stockwerk waren Sende- und Funkanlagen untergebracht. Ein rotes Telefon verband den Hotelchef direkt mit der Parteizentrale von Tallinn. Über tausend Angestellte arbeiteten in dem Hotel, das für achthundert Gäste ausgelegt war. Das Vorzeige-Hotel der sowjetischen Intourist-Kette war völlig autark. "Auch wenn in Tallinn die Läden leer waren, bogen sich hier die Büffett-Tische", so Peep Ehasalu. Das Museum soll auch die Fragen beantworten, warum es eine Brotabschneiderin als eigenständigen Beruf gab und warum das komplette Hotel von finnischen Baufirmen errichtet wurde.
Hoffnung auf mehr Gäste
Für Tallinn sei der Titel "Europäische Kulturhauptstadt" eine große Chance, glaubt Michael Stenner, Hoteldirektor und Chef der deutsch-baltischen Handelskammer in Tallinn: "Wir haben 2011 zwei Sondereffekte in Tallinn, die Euro-Einführung und die Kulturhauptstadt. Wir erhoffen uns durch beides zusätzliche Geschäfte, mehr Investoren und Geschäftsleute, die bei uns übernachten, und mehr Touristen, denn man hat ein riesiges Programm aufgelegt für die nächsten zwölf Monate." Bei den Gästezahlen sei noch Luft nach oben, auch wenn sich Tallinn nach der Wirtschaftskrise schon wieder einigermaßen erholt habe.
Autor: Bernd Riegert
Redaktion: Julia Kuckelkorn