Die gelbe Welle
7. Juli 2019Sie wissen es bereits auf der Ziellinie: Wout van Aert und Tony Martin klatschen sich ab, schreien ihre Freude heraus und bejubeln ausgelassen den Etappensieg ihrer Mannschaft. Ein ungewöhnliches Bild. Denn Zeitfahren sind meist ein Sekundenpoker, normalerweise wird bis zum letzten Meter gefightet, der Jubel kommt erst später. Nicht so auf der 2. Etappe der Tour de France: Team Jumbo-Visma dominiert das Mannschaftszeitfahren, ist bei allen Zwischenzeiten in Führung und baut den Vorsprung immer weiter aus. 20 Sekunden betrug am Ende die Differenz auf das Ineos-Team um Vorjahressieger Geraint Thomas. Eine echte Ansage.
"Ein absoluter Traumstart", sagt Grischa Niermann freudestrahlend im DW-Interview im Ziel von Brüssel. Der ehemalige deutsche Radprofi ist inzwischen Trainer bei Jumbo-Visma, bei dem Team, für das er während seiner gesamten Karriere fuhr (damals noch unter dem Namen Rabobank) und insgesamt neun Mal bei der Tour de France startete. "Nach dem Sieg von Mike Teunissen haben wir uns natürlich auch mit Tony Martin und Wout van Aert für das Mannschaftszeitfahren viel ausgerechnet. Aber dass wir mit 20 Sekunden gewinnen, haben wir nicht erwartet", gibt Niermann zu. Er ist nass geschwitzt, hat mit seinen Schützlingen gefiebert. Dass sie den Tour-Start dominieren, ist für ihn einerseits eine Überraschung, andererseits aber auch nicht.
"Der Traum geht weiter"
"Wout van Aert und Tony Martin sind aktuell wahrscheinlich die stärksten Zeitfahrer der Welt. Das hat uns großes Selbstbewusstsein für das Teamzeitfahren gegeben", sagt Niermann. In der Tat gingen die Fahrer in Gelb als eines der Favoritenteams ins Rennen. Mit dem vierfachen Weltmeister Tony Martin, dem Sieger des Zeitfahrens beim Critérium du Dauphiné Wout van Aert oder dem starken Niederländer Steven Kruijswijk schlug das Ensemble von Anfang an ein hohes Tempo an. Und dann war da ja auch noch Mike Teunissen, der nach seinem überraschenden Etappensieg am Samstag wie beflügelt fuhr. "Es war eine große Motivation für uns, das Gelbe Trikot zu behalten", sagte er später im Ziel und freudestrahlend. "Als wir hörten, dass wir die schnellste Zwischenzeit gefahren sind, hat uns das noch einmal gepusht. Der Traum geht weiter."
Jumbo Visma kommt damit bereits auf 37 Saisonsiege, rechnet Grischa Niermann stolz vor. Im gesamten Vorjahr waren es 33. "Und da dachten wir noch: Das wird nicht zu toppen sein", sagt er lachend. Während im Zielbereich ein paar Niederländer lautstark die Renner in Gelb feiern, versucht Niermann den Erfolg zu erklären. Man habe ein gutes Team im Hintergrund der Fahrer zusammengestellt, das auf Details achte. Und viele Fahrer hätten sich weiterentwickelt, an Leistung gewonnen. Das alles würde wiederum das gesamte Team pushen, das nun mehr an sich glaube.
Ein Team mit einer Vorgeschichte
Eine schon häufiger gehörte, im Fall von Jumbo-Visma aber plausible Erklärung, die sich auch mit dem deckt, was Tony Martin seit seinem Wechsel zu den Niederländern im vergangenen Winter beschreibt. Schon damals habe man mit der speziellen Vorbereitung auf diesen Tag begonnen, die Abläufe des Mannschaftszeitfahrens trainiert. Und Zeitfahrspezialist Martin habe all seine Erfahrungen an jüngere Fahrer weitergegeben, sie dadurch besser gemacht, versichert Mike Teunissen. "Er ist einer der zentralen Faktoren dieses Sieges." Die Entwicklung des Teams verlief zudem kontinuierlich, in vielen Schritten und auch auf Basis der Ausbildung eigener Fahrer.
Und doch gehört zur Geschichte dieses Teams auch diese Seite: Grischa Niermann gab im Nachhinein zu, zumindest eine Zeitlang während seiner Karriere mit EPO gedopt zu haben, sah sein Geständnis aber als Zeichen an jüngere Rennfahrer. Das halbe Rabobank-Team von damals gestand Dopingpraktiken, durchgeführt von Teamarzt Geert Leinders. Anders als im Falle des Teams Telekom löste sich die Mannschaft aber nicht auf, sondern gewann neue Sponsoren und baute neue Fahrer auf. Im Mai musste dann die Teamleitung versichern, dass ihr Klassementfahrer Primoz Roglic nichts mit den Dopingenthüllungen um einen ehemaligen sportlichen Leiter aus dessen Heimat zu tun habe. Es gibt keine handfesten Hinweise auf illegale Machenschaften im Team, doch angesichts der eigenen Geschichte wird sich der Rennstall wohl gerade jetzt besonders beäugt.
Zahlreiche Optionen für Etappensiege
Denn die Erfolgsserie muss mit dem Auftaktwochenende der Tour de France noch lange nicht zu Ende sein. Der auf der ersten Etappe gestürzte und tief enttäuschte Sprinter Dylan Groenewegen konnte am Sonntag schon wieder lachen und ist bei den kommenden Massensprints zu beachten. Mit Stephen Kruijwijk hat das Team einen Anwärter auf die Top Ten der Gesamtwertung oder einen Etappensieg in den Bergen dabei und mit Martin und Van Aert zwei heiße Anwärter auf einen Triumph im Einzelzeitfahren auf der 13. Etappe in Pau. Die Gelbe Welle könnte weiter rollen.