Teodor Currentzis glänzt mit Verdi-Requiem
13. April 2019180 Musiker gehen an den beiden Seitenwänden des Kirchenschiffs Richtung Altarraum: dahin, wo eigens eine Bühne für diesen besonderen Abend errichtet wurde. Sie sind in Soutanen gehüllt - knöchellange, schwarze Gewänder, wie sie sonst nur Geistliche tragen. Die Idee für die Bühnenbekleidung stammt von Dirigent Teodor Currentzis. Er wollte, dass bei der Aufführung von Verdis Totenmesse nichts von der Musik ablenkt.
Es folgen der Maestro selbst und die vier Solisten. Auf der Bühne angekommen verharren sie. Ein Pfarrer, auf der Kanzel stehend, rezitiert Textstellen aus dem Matthäusevangelium. Danach Stille. Teodor Currentzis bewegt sachte, fast unmerklich die Hände. Aus dem Nichts schleicht sich die Musik heran, die Celli spielen pianissimo, der Chor singt leise auf Lateinisch: "Requiem aeternam dona eis, Domine, et lux perpetua luceat eis" (Übersetzung: "Ewige Ruhe gib ihnen, Herr, und ewiges Licht leuchte Ihnen"). Die Totenfeier hat begonnen. Die 800 Zuhörer in der Kirche erwartet eine 90-minütige Berg- und Talfahrt der Gefühle, die sie nicht vergessen werden.
Magischer Ort für magische Musik
Teodor Currentzis dirigiert das Requiem nicht irgendwo, sondern genau an dem Ort, wo Giuseppe Verdi sein Werk 1874 bei der Premiere selbst uraufgeführt hat. Der Komponist wollte das Requiem eigentlich in der Mailänder Kirche Santa Maria delle Grazie uraufführen, der Kirche, die auch das berühmte Wandgemälde "Das Abendmahl" von Leonardo Da Vinci beherbergt. Doch er entschied sich für die Chiesa di San Marco - wegen ihres guten Klangs, und weil hier schon ein anderer großer Musiker wirkte: Wolfgang Amadeus Mozart. Er spielte im Jahr 1770 die Orgel, als er drei Monate lang in Mailand weilte.
Verdi schrieb die "Messa da Requiem" in Erinnerung an seinen Freund und Schriftsteller Alessandro Manzoni. Dieser war - so wie Verdi - Anhänger des Risorgimento ("Wiedererstehung"), der italienischen Nationalbewegung im 19. Jahrhundert. Der Komponist bot der Stadt Mailand die Komposition einer Messe an und genau ein Jahr nach Manzonis Tod, am 22. Mai 1874, fand in San Marco die Weltpremiere statt. Schon kurz nach der Premiere und zwei weiteren Aufführungen an der Mailänder Scala begann der internationale Siegeszug des Stücks. Es wurde in ganz Europa aufgeführt – nicht wegen seiner kirchlichen Bedeutung, sondern vor allem wegen der musikalischen und emotionalen Kraft, die von ihm ausgeht, und wegen seiner Opernhaftigkeit.
Eine Totenfeier, die beseelt
Nach 145 Jahren erklingt das Requiem also wieder dort, wo es erstmals aufgeführt wurde. Ein magischer Moment. Teodor Currentzis lotet die Extreme aus. Mal sind seine Musiker unhörbar leise, mal ohrenbetäubend laut. Die Texte singt er mit, wendet sich den Solisten zu, den Musikern, dem Chor. Er ist der Magier im Mittelpunkt. Wie ein Marionettenspieler hält er die Fäden in der Hand. Während des gesamten Requiems spielen die Musiker mit leichten Instrumenten im Stehen. Das ist typisch für das Orchester MusicAeterna. So können die Musiker ihre Energie freier entfalten, meint ihr Chef Teodor Currentzis.
Das "Dies irae" ("Tag des Zorns") ist einer der Höhepunkte des Konzerts. Es kommt gleich drei Mal im Requiem vor und gilt als Kernstück des Werks. Während die meisten anderen Teile leise, beinahe lyrisch beginnen, überschlagen sich hier Bläser, Streicher, Pauken und Chor von Anfang an. Wegen seiner Intensität wurde das Stück später für viele Filmsoundtracks verwendet, darunter "Mad Max" von George Miller und "Django Unchained" von Quentin Tarantino.
Ebenfalls herausragend das Lacrymosa ("tränenreich"), gesungen vom Chor und den vier Solisten Zarina Abaeva (Sopran), Eve-Maud Hubeaux (Mezzosopran), Dmytro Popov (Tenor) und Tareq Nazmi (Bass). Hier verwebt Verdi kunstvoll den Chorgesang mit den Stimmen der Solisten. Und Currentzis sorgt dafür, dass alles sehr präzise und transparent bleibt. Für den Zuhörer ist das Stück unfassbar schön und zugleich tief berührend und traurig.
Zauberer aus Perm
Es ist Teodor Currentzis, geboren in Athen und ausgebildet in Sankt Petersburg, der diese intensiven Momente möglich macht. Er gilt als einer der vielversprechendsten Dirigenten überhaupt. Von Kritikern und Fans wird er als "Ausnahmekünstler", "Genie", "Derwisch" oder "Diktator" bezeichnet, hier in Mailand ist der 47-Jährige vor allem Zauberer und Magier.
Von 2004 bis 2010 leitet er das Orchester Novosibirsk und gründet in dieser Zeit das Ensemble MusicAeterna und den Kammerchor gleichen Namens. Orchester und Chor nimmt er mit ins russische Perm, der östlichsten Millionenstadt Europas, und wird Chef der dortigen Staatsoper und des Balletttheaters. Seit 2018 ist er auch Chefdirigent des Symphonieorchesters des Südwestrundfunks.
Für den preisgekrönten Dokumentarfilm "Currentzis – Der Klassikrebell" porträtierte die Deutsche Welle den Dirigenten 2016 bei seiner Arbeit in Perm. Von Anfang an seine Passion: die Menschen mit allen Sinnen für die Musik zu gewinnen.
Zwischen Himmel und Hölle
Das Finale der Messe markiert das "Libera me" ("Befreie mich"). Nach dreizehn aufwühlenden Minuten wird es zum Ende hin immer leiser und leiser. Die Totenmesse endet, wie sie begonnen hat, mit den Worten "Requiem aeternam dona eis, Domine, et lux perpetua luceat eis" ("Ewige Ruhe gib ihnen, Herr, und ewiges Licht leuchte Ihnen"). Es ist alles gesagt zwischen Himmel und Hölle. Das Publikum will frenetisch applaudieren, doch es darf nicht. Das erfordert die Dramaturgie des Abends. Wegen der Konzertaufzeichnung wurden die Zuschauer gebeten, nicht zu klatschen, was sehr schwer fällt.
Teodor Currentzis - sein Vorname bedeutet übrigens "Geschenk Gottes" - verlässt als erster die Bühne und geht durch den Mittelgang zum Ausgang. Sein Gesicht verrät: Er ist erschöpft, zugleich beseelt, beinahe erleuchtet. Ihm folgen die Musiker in den Soutanen, und auf den Seitengängen strömen die Solisten und der Chor zum Ausgang. Das feierliche Ende eines bemerkenswerten Abends.
Das Konzert wurde von acht Kameras aufgezeichnet und live im Internet gestreamt. Außerdem soll eine Blu-ray erscheinen. Der magische Moment wird der Nachwelt also erhalten bleiben, damit nicht nur die Zuschauer in der Kirche San Marco das Gefühl haben, etwas Außergewöhnliches erlebt zu haben. In der zweiten Jahreshälfte zeigt die Deutsche Welle in ihrer Sendung "Kultur.21" ein halbstündiges Feature über die Aufführung das Verdi-Requiems in Mailand. Darin wird es musikalische Höhepunkte sowie Interviews mit dem Dirigenten, den Musikern und den Sängern geben.