Die schweigende Mitte
11. März 2020Drei brennende Flaschen töten Đỗ Anh Lân. Er ist 18 Jahre alt, aus Vietnam nach Deutschland geflohen und schläft in einer Hamburger Flüchtlingsunterkunft, als rechte Terroristen die Brandsätze durch die Fensterscheibe werfen. Đỗ Anh Lân stirbt Tage später an den Verbrennungen. Sein Zimmernachbar in der Tatnacht, Nguyễn Ngọc Châu, stirbt ebenfalls. "Ausländer raus!" sprühen die Mörder noch auf die Fassade der Unterkunft.
"Niemand kümmert es"
Es ist die Nacht auf den 22. August 1980 und in den Statistiken werden es die ersten rassistischen Morde der Bundesrepublik Deutschland sein. 40 Jahre sind seit der Tat vergangen. Aber die Mutter, Đỗ Mui, kämpft bis heute mit dem Schmerz. Und sie kämpft für einen Gedenkort in der Millionenstadt Hamburg. Einen öffentlichen und offiziellen. Einen, der das Leid auch nach außen hin sichtbar macht. "Niemand kümmert es", sagt sie in einem Interview mit der Zeitung "Die Zeit".
Deutschland tut sich schwer mit einer modernen Erinnerungskultur für die Opfer von Terrorismus. Natürlich gibt es ein lebendiges Gedenken. Ganz aktuell etwa nach den Morden in der hessischen Stadt Hanau. Am 19. Februar 2020 erschießt ein 43-jähriger Deutscher neun Menschen. Die Opfer oder ihre Familien sind Einwanderer. Das Tatmotiv: Rassismus. Zur Trauerfeier kommen Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Bundeskanzlerin Angela Merkel.
Es ist ein würdiges Gedenken. Aber die Opferfamilien fürchten, dass sie schon bald wieder allein gelassen werden mit ihrer Trauer - und vor allem mit ihren Ängsten. "Wir kriegen jetzt vermehrt Rückläufe von Angehörigen, dass einige Angst haben ihre Kinder in die Schule zu bringen", berichtet Robert Erkan von der Opferberatungsstelle Hanau. Rechter Terror ist für die Opferfamilien nichts Einmaliges. Es ist ein bitterer Realismus, denn trotz aller Mahnungen und Beteuerungen aus der Politik hat der Terror nie aufgehört.
Geschändete Gedenkorte
Natürlich gibt es auch zahlreiche bedeutende Orte zum Gedenken an die Opfer von Terrorismus, vor allem in der Hauptstadt Berlin: das Holocaustmahnmal oder das Dokumentationszentrum "Topographie des Terrors" gehören mit Millionen von Besuchern zu den meistbesuchten Erinnerungsorten der Republik. Aber sie gedenken der Opfer des Nationalsozialismus, also einer Zeit vor der Gründung der Bundesrepublik.
Neuere Gedenkorte haben es schwer. Manchmal werden sie abgelehnt, wie etwa im Falle des Mordes an Đỗ Anh Lân, manchmal werden sie geschändet. In zahlreichen Städten erinnern Mahnmale an die Opfer der rassistischen Mordserie des selbsternannten "Nationalsozialistischen Untergrund", NSU. Sie wurden beschädigt, geklaut oder mit Hakenkreuzen beschmiert. In der Stadt Kassel wünschen sich die Eltern des ermordeten Halit Yozgat sei Jahren, dass die Straße, in der er geboren wurde, nach ihm in Halitstraße benannt wird. Die Stadt lehnt das ab. Für die Angehörigen ist das schwer zu ertragen.
Sie fordern kein Geld vom Staat, keine Wiedergutmachung, sondern die Aufarbeitung und eben Orte der Erinnerung, die den Verstorbenen ein Stück Würde zurückgeben sollen. Das ist oft ein niederschmetternder Kampf: in der ostdeutschen Stadt Zwickau erinnerte eine kleine Eiche an die Opfer. Der Baum wurde abgesägt. Wie in den anderen Fällen auch waren die Täter wohl Rechtsextremisten.
Hass und Gewalt nehmen zu
Einen Tag vor dem offiziellen "Europäischen Gedenktag für die Opfer des Terrorismus" am 11. März kommt Bundespräsident Steinmeier nach Zwickau, besucht die wieder neu gepflanzten Gedenkbäume. Er trifft sich mit Bürgermeistern aus ganz Deutschland, um über Hass und Gewalt zu sprechen. Denn immer öfter werden Kommunalpolitiker Opfer von Angriffen und Beleidigungen. Schon jeder zweite Bürgermeister erklärt, dass er mehrfach angegangen worden sei.
Der Bundespräsident spricht ihnen Mut zu. Vor allem aber richtet er sich an die breite Mitte der Gesellschaft: "Niemand darf mehr sagen: Das betrifft mich nicht. Und niemand darf mehr schweigen. Die sogenannte schweigende Mitte war zu lange ruhig, aber wir wissen auch: Sie existiert, es gibt sie, diese Mehrheit von Menschen in unserem Land, die friedlich zusammenleben will und Gewalt eindeutig verurteilt. Aber genau diese Mehrheit muss jetzt laut werden.” Steinmeiers Botschaft an die Mehrheitsgesellschaft lautet: "Wir bleiben nicht still. Wir stellen uns gemeinsam gegen den Hass."
Đỗ Mui hat in Hamburg über die Jahre Mitstreiter für einen Gedenkort an den rassistischen Mord an ihren Sohn gefunden. Die Behörden allerdings haben einen solchen Ort auch vierzig Jahre nach der Tag immer noch nicht genehmigt.