Kleines Land, großes Leid
1. Mai 2010Der Grand Marché, ein chaotisches Farbenmeer mitten in Lomé. Lautstark bieten die Fischer den Fang des Tages an, Frauen in bunten Kleidern balancieren Plastikschüsseln und Kisten auf dem Kopf. Im Gehen verkaufen sie Reis, Gemüse, Obst, Limonade. Motorräder kämpfen sich im Schritt-Tempo durch die Menschenmassen.
Ein Auto kann sich kaum jemand leisten. Und so ist ganz Lomé auf die so genannten Zemidjan angewiesen, die Motorradtaxis - und ihre mutigen Fahrer. Einer von ihnen ist Thomas Naté. "Es gibt hier keine andere Arbeit. Die Schule habe ich geschmissen und dann habe ich mit einem kleinen Kiosk versucht." Seine Frau verkauft Seife auf dem Markt, erzählt Naté. Aber die Geschäfte laufen schlecht. Also fahre er seit ein paar Jahren Motorradtaxi – um zu überleben.
Unabhängig in die Diktatur
So wie Thomas geht es den meisten hier. Von 100 Togoern haben vielleicht zwei einen richtigen Job. Und das hat nicht nur mit den Folgen der weltweiten Wirtschaftskrise zu tun. Sondern auch mit Togos Kolonialgeschichte und vor allem mit seiner politischen Führung, die das Land Schritt für Schritt zerstört hat. Professor Kwassivi Francis Amegan hat alles miterlebt. Seit Jahrzehnten erforscht er in Togos Nationalarchiv die Geschichte seines Landes.
Wenn er an den 27. April 1960 denkt, bekommt er heute noch feuchte Augen. Er war noch Schüler damals, hatte bei katholischen Missionaren Deutsch gelernt. Und er durfte hoffen. Darauf, dass nun nach den deutschen Kolonialherren endlich auch die Franzosen gehen. Dass endlich die Freiheit nach Togo kommt. Er war dabei, als der erste Präsident, Sylvanus Olympio, seine erste Rede gehalten hat. Einen Satz der Rede hat Amegan noch immer immer im Ohr, ein Zitat aus der Bibel. "Die Nacht ist lang, aber der Tag kommt."
Doch nur drei Jahre nach der Unabhängigkeit kommt es zum Putsch, Hoffnungsträger Olympio wird ermordet. An seine Stelle tritt ein Langzeit-Diktator: Gnassingbé Eyadéma. Er macht Togo zu einem brutalen Polizeistaat. Kwassivi Amegan glaubt, dass der Kolonialismus mit Eyadéma einfach weitergegangen ist. Nur mit anderen Mitteln. Eyadéma regiert Togo fast 40 Jahre wie sein Privateigentum - bis zu seinem Tod 2005. Dann lässt sich sein Sohn Faure Gnassingbé mit gefälschten Wahlen zum Präsidenten küren. Bei Protesten sterben in Lomé binnen weniger Tage weit mehr als 500 Menschen. Die Staatsmacht schießt auf ihre Bürger.
Im Stile einer Erbmonarchie
Faure Gnassingbé übernimmt Togo von seinem Vater wie in einer Erbmonarchie. Claude Bamnante stellt seinem Präsidenten ein gutes Zeugnis aus. "Die Früchte der ersten fünf Regierungsjahre von Präsident Faure sprechen für sich", sagt der hoher Funktionär von Gnassingbés mächtiger Regierungspartei RPT. "Wer blind ist, kann hören, was Faure geleistet hat, wer taub ist, kann es sehen. Alles hat sich verbessert, Politik, Wirtschaft, Soziales." Jetzt dürften die Togoer den Präsidenten nicht im Stich lassen – denn er habe das Land in Richtung Zukunft geführt.
Jean Kissy von der Opposition traut seinen Ohren nicht. Togo sei so tief gefallen, dass man sich kaum vorstellen könne, dass es weiter bergab ginge. "Wenn diese Regierung nun noch einmal fünf Jahre so weitermacht, dann wird dieses Land bald auf dem Müllhaufen der Geschichte landen."
Doch Faure Gnassingbé wird weitermachen. Die Wahlen vom 4. März hat er klar für sich entschieden. Seine Parteianhänger triumphieren, schwärmen von freien und fairen Wahlen. Wut und Enttäuschung machen sich dagegen bei Faures Gegnern breit. In Lomé kommt es täglich zu heftigen Protesten. Wieder ist von Wahlbetrug die Rede. Wie schon vor fünf Jahren.
"Über 60 Prozent für Faure – das ist unmöglich", schimpt ein Demonstrant. Die RPT habe in Togo noch nie Wahlen gewonnen, sie habe immer nur betrogen. "Schau dir das an, keine Straßen, keine Arbeit, gar nichts! Wir wollen, dass diese Partei endlich verschwindet. Damit Togo endlich frei ist!"
Seit 50 Jahren keine unumstrittene Wahl
Immer wieder treiben Sondereinheiten der Polizei die Menge mit Tränengas auseinander, nehmen Demonstranten fest. Viele haben Angst vor einem Blutbad wie vor fünf Jahren. Doch die Herrschaft der Familie Eyadéma bleibt auch im fünften Jahrzehnt ungebrochen. Daran kann auch die Opposition nichts ändern. Denn Togos Verfassungsgericht hat alle Klagen gegen den Wahlausgang abgewiesen.
Seit der Unabhängigkeit im Jahr 1960 hat es in Togo noch keine Wahl gegeben, die unumstritten war und demokratischen Standards entsprach. Wenigstens könne man nun seine Meinung einigermaßen frei äußern, findet Professor Amegan, der Forscher im Nationalarchiv. "Und wenn man heute in ein Restaurant geht und sich mit Freunden trifft, dann braucht man keine Angst um seine eigene Person zu haben." Das aber sei auch das Einzige, was sich bis jetzt geändert habe.
Dem Regime der Eyadémas kann der 70-jährige Germanist bis heute nur seine Leidenschaft entgegensetzen: die deutsche Literatur, Goethe vor allem. Kwassivi Amegan zitiert gern Mephisto, den teuflischsten aller Verführer, und antwortet sich selbst als Doktor Faust, der verzweifelt nach der Wahrheit sucht, nach dem Sinn des Lebens. Und dann staunt er jedes Mal, wie gut Goethes klassisches Drama nach Togo passt. Sarkasmus pur. Fünfzig Jahre nach der Unabhängigkeit.
Autor: Alexander Göbel
Redaktion: Sven Töniges