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Tony Martin: "Ich bin der Mann fürs Grobe"

25. August 2020

Vom Weltmeister zum Arbeitstier: Tony Martin hat sich bei Jumbo-Visma neu erfunden und soll bei der Tour de France helfen, Gelb zu holen. Im DW-Interview spricht er auch über die Gefahr eines Corona-Ausbruchs im Peloton.

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Criterium du Dauphine 2020 - 3. Etappe Corenc - Saint-Martin-de-Belleville
Tony Martin (l.) in gewohnter Position - vor sein Team gespannt und im Dienst von Kapitän Roglic (2.v.r.)Bild: picture-alliance/Augenklick/Roth

DW: Tony Martin, der Radsport wagt inmitten der zweiten europäischen Corona-Welle einen Neustart. Teams, Veranstalter und Weltverband versuchen das Peloton der Tour de France so gut wie möglich gegen das Coronavirus abzuschirmen. Wie klappt das aus Ihrer Sicht?

Tony Martin: Ich denke, das klappt sehr gut. Die Voraussetzung ist natürlich, dass die Fahrer gesund anreisen. Das versucht man mit Corona-Tests kurz vor dem Rennstart zu überprüfen. Die Anreise birgt immer gewisse Risiken, aber sobald wir einmal am Wettkampfort angekommen sind, reisen wir in einer geschlossenen Einheit von Hotel zu Hotel. Wir haben kaum Kontakt mit Personen außerhalb des Teams oder gar Zuschauern. Der Veranstalter der Tour de France schottet uns gut ab. Insofern bin ich zuversichtlich, dass wir gesund durch die Wettkämpfe kommen. Dass wir jetzt am Samstag in Nizza an der Startlinie der Tour stehen, ist nicht selbstverständlich und war lange nicht klar.

In Frankreich haben sich zuletzt immer mehr Menschen infiziert. Hinzu kommen auch einzelne positive Tests im Profiradsport. Haben Sie Angst vor einer Infektion?

Überhaupt nicht. Ich mache mir mehr Gedanken um Stürze, die sind für mich die größere Gefahr. Ich hoffe einfach, dass - selbst wenn ich mich infizieren sollte - das Coronavirus einen milden Verlauf bei mir hat. Beeinflussen kann man es ohnehin nicht. Ich werde mich bestmöglich abschotten, an die Hygiene-Richtlinien halten und positiv denken. Solange ich gesund bin, werde ich weiterfahren.

Bis zu 5000 Zuschauer in den Etappenorten - ein Risiko?

Die Veranstalter der Tour de France wollen die Zuschauerzahlen in den Start- und Zielorten begrenzen, die Werbe-Karawane wird verkleinert, auf dem Siegerpodium wird Abstand gehalten und in den Teamhotels soll jede Mannschaft eine eigene Etage bekommen. Reichen diese Maßnahmen aus, um für eine sichere Tour de France zu sorgen?

Tour de l'Ain 2020 - 3. Etappe Saint-Vulbas - Grand Colombier
Außerhalb des Rennens herrscht bei der Tour permanente MaskenpflichtBild: picture-alliance/Augenklick/Roth

Ja, ich glaube schon. Es wird alles Menschenmögliche für unsere Sicherheit getan. Aber man kann keine Mauer um uns ziehen und uns drei Wochen lang isolieren. Das geht einfach nicht. Deshalb ist es wichtig, dass auch die Zuschauer mithelfen. Bei der Dauphiné [dem wichtigsten Vorbereitungsrennen vor der Tour - Anm. d. Red.) habe ich beobachtet, dass längst nicht jeder Zuschauer am Straßenrand eine Maske trägt, wie es eigentlich vorgeschrieben ist. Es wäre ganz wichtig, die Zuschauer darauf hinzuweisen, dass jeder Einzelne eine Maske trägt. Für uns Fahrer sehe ich ein relativ geringes Infektionsrisiko. Die Gesundheit der Zuschauer sehe ich eher gefährdet. Denn ich finde auch, dass 5000 Personen im Start- und Zielbereich [das ist die maximal zugelassene Zuschauerzahl in den Start- und Zielorten - Anm. d. Red.] eine sehr große Zahl sind. Ich hoffe, dass uns das nicht auf die Füße fallen wird.

Ihre Mannschaft Jumbo-Visma ist zum großen Herausforderer des bislang dominierenden Ineos-Teams gereift und wirkt so stark wie nie zuvor. Wie erklären Sie sich diesen Aufstieg?

Für mich ist das eine logische Folge aus der harten Arbeit, die wir schon seit Jahren betreiben. Ich bin erst gut anderthalb Jahre im Team, aber der Prozess hat schon viel früher begonnen. Das Team arbeitet extrem professionell, die Fahrer, aber auch das ganze Umfeld. Zum Beispiel achten wir sehr genau auf die Ernährung, arbeiten in diesem Bereich wissenschaftlich, da wird nichts dem Zufall überlassen. Da wird genau berechnet, was der Körper braucht, um optimal arbeiten zu können. Wir tun auch alles für eine optimale Regeneration, das ist extrem wichtig bei den großen Rundfahrten. Ich sehe uns in dieser Hinsicht aktuell an der Spitze des Pelotons. Mit Primoz Roglic haben wir den stärksten Fahrer und zudem ist das Team extrem gut drauf. Ich glaube, dass wir um das Gelbe Trikot fahren werden. Letztlich ist unsere Leistung ein Puzzle, das sich aus sehr vielen Stücken zusammensetzt. Ich kann nur sagen, die Erfolge kommen nicht von ungefähr.

Das Duell Roglic-Bernal

Viele rechnen mit einem Duell zwischen Primoz Roglic und Vorjahressieger Egan Bernal. Wie schätzen Sie beide im Vergleich ein?

Ich denke, dass sich beide am Berg nicht viel nehmen. Ich glaube, der ganz große Vorteil von Primoz ist, dass er auf den letzten 500 oder 1000 Metern der explosivere Fahrertyp ist. Er kann die Sprints am Berg gewinnen und seinen Gegner so noch einige Sekunden abnehmen. Man hat in der Vergangenheit gesehen, dass die Fahrer immer mehr zusammenrücken, dass die Tour durch wenige Sekunden Zeitunterschied entschieden wird. Insofern kann es von Vorteil sein, sprintstärker zu sein. Ich denke, dass Primoz aktuell stärker einzuschätzen ist.

Wie sehen Sie Ihre eigene Rolle in diesem Kampf um Gelb?

Ich bin der Arbeiter, der Mann fürs Grobe. Ich bin dafür da, das Feld im flachen oder welligen Terrain zusammenzuhalten. Ich übernehme auch die Rolle des Road-Captains, sprich: ich versuche das Team mit meiner Erfahrung zu führen, taktische Anweisungen zu geben, wenn es der sportliche Leiter nicht kann. Meine Arbeit ist meistens vor dem eigentlichen Finale getan. Aber es muss natürlich in jeder Mannschaft auch Fahrer geben, die die Arbeit machen, wenn die Live-Übertragung im Fernsehen noch nicht läuft.

"Ich liebe es, zu arbeiten"

Sie waren einst der weltbeste Zeitfahrer, jetzt sind sie ein Helfer für andere. Ist Ihnen dieser Rollenwechsel schwergefallen?

Nein, gar nicht. Ich habe die Rolle gefunden, die mir zum jetzigen Stand meiner Karriere sehr gut passt. Mir macht das sehr viel Spaß. Ich genieße es auch, nicht mehr den unmittelbaren Ergebnisdruck zu haben. Als Kapitän hat man kein leichtes Leben. Jeder erwartet, dass man an den entsprechenden Tagen gewinnt. Insofern kann ich sagen, im Herbst meiner Karriere bin ich da angekommen, wo ich sein will. Ich liebe es, für das Team zu fahren, zu arbeiten. Wir gewinnen zusammen und verlieren zusammen. Insofern bin ich Teil des Erfolgs, auch wenn ich nicht als Erster ins Ziel fahre.

Tour de l'Ain 2020 - 3. Etappe Saint-Vulbas - Grand Colombier
Tony Martin arbeitet oft stundenlang an der Spitze des Feldes - eine wichtige Rolle für sein TeamBild: picture-alliance/Augenklick/Roth

Im Vorjahr gab es ein hitziges Aufeinandertreffen zwischen Ihnen und Luke Rowe, an dessen Ende Sie beide disqualifiziert wurden. Was haben Sie aus diesem Vorfall gelernt?

Da sind einfach die Emotionen hochgekocht. Die Entscheidung [beide Fahrer zu disqualifizieren - Anm. d. Red.] finde ich immer noch nicht korrekt. Aber sei es drum. Bei der Tour de France wird halt alles ein wenig hochgekocht. Da sind die Kameras überall. Solche Vorfälle sind für uns einfach tägliches Business, da kommt es dann auch mal zu kleineren Streitigkeiten. Wenn man 200 Kilometer bei 35 Grad fährt, dann ist man schnell auch mal überhitzt. Solange keiner zu Fall kommt, denke ich, ist das kein Problem.

Tony Martin kam 1985 im ostdeutschen Cottbus zur Welt. Als er vier Jahre alt war, flohen seine Eltern mit ihm kurz vor dem Mauerfall über Ungarn in den Westen. Im wiedervereinigten Deutschland machte er bereits als Jugendfahrer auf sich aufmerksam und wurde 2008 beim Telekom-Nachfolgerennstall HTC-Columbia Profi. Es folgte ein steiler Aufstieg zum stärksten Zeitfahrer der Welt - mit vier Weltmeistertiteln sowie fünf Tour- und zwei Vuelta-Etappensiegen. Als im Einzelzeitfahren die Erfolge ausblieben, sattelte Martin um und gilt nun als einer der wichtigsten Helfer von Tour-Mitfavorit Primoz Roglic aus Slowenien.

Das Interview führte Joscha Weber.

Ein Blick in die Geschichte der Tour de France: