Tour de France: Das Risiko fährt mit
2. Juli 2021Eine kleine Unachtsamkeit kostete Bert Harris das Leben. Im Bruchteil einer Sekunde touchierte Harris auf der Radrennbahn von Aston das Hinterrad seines Vordermanns und schlug bei hoher Geschwindigkeit auf den harten Zementboden der Bahn. Mit dem Kopf. Eine Woche später starb der beliebte Radsportler, 60.000 Menschen standen auf dem Weg zur Beerdigung im April 1897 Spalier, berichten Zeitungen. Harris ist einer der ersten dokumentierten Todesfälle im Radsport, der Ende des 19. Jahrhunderts in einer immer mobiler werdenden Gesellschaft seinen ersten Boom erlebte. Die ersten Radrennen waren Abenteuer und Spektakel zugleich, ohne Schaltung, mit schlecht funktionierenden Bremsen. Eines war damals wie heute gleich: Das Risiko fährt mit, seitdem sich die Räder drehen.
130 professionelle Radsportlerinnen und Radsportler sollen bereits im Rennen verstorben sein. Teamchef Marc Madiot befürchtet: Dabei wird es nicht bleiben. "Wir müssen etwas ändern. Wir müssen feststellen, dass im Moment etwas falsch läuft", schäumte der Chef des französischen Groupama-FDJ-Rennstalls im französischen Fernsehen während der laufenden Tour de France. "Wenn wir das nicht tun, wird es Tote geben. So kann es nicht weitergehen." Die vielen Stürze, die Verletzungen, die blutverschmierten Fahrer - so schlimm war es noch nie, findet Madiot. Die erste Tour-Woche ist stets nervös, hektisch und geprägt von Stürzen. Die Etappen sind meist flach, die Fahrer motiviert, die Straße aber zu eng für alle, die nach vorne wollen. Doch bei dieser 108. Tour durch Frankreich sind es noch mehr, noch verheerendere Stürze als zuletzt. Und deswegen ist nicht nur Teamchef Madiot besorgt um seinen Sport.
Erst brachte eine Zuschauerin das halbe Peloton zu Fall, weil sie - halb auf der Fahrbahn stehend - mit einem Pappschild ihre Großeltern grüßen wollte. Die Frau stellte sich später der französischen Polizei, ihr droht eine Strafe wegen fahrlässiger Körperverletzung. Dann folgten jedoch noch weitere heftige Crashs ohne Einwirkungen von außen: Mal durch einen Fahrfehler in einer Abfahrt bei 70 km/h, mal in einer kurvigen Ortsdurchfahrt in der Bretagne, mal im engen Positionskampf auf der Zielgeraden. Ohne jede Knautschzone oder Schutzkleidung geht bei jedem dieser Stürze "Tapete" ab, wie die Radsportler es formulieren. Ein rauer Sport. Doch selbst für die eigenen Maßstäbe passiert gerade viel. Mehr als jeder zweite Tourfahrer wurde bereits in einen Sturz verwickelt oder ausgebremst. Viele sind bandagiert, mehr als ein halbes Dutzend bereits verletzt ausgestiegen. Woher kommt die neue Gefahr? Oder war sie schon immer da?
Zunächst einmal spielt der Faktor Geschwindigkeit eine Rolle. Gleich eine ganze Reihe Entwicklungen haben die Rennen schneller gemacht: Aerodynamische Optimierungen an Rahmen, Rädern, Helmen und Kleidung reduzieren den Luftwiderstand von Fahrer und Rad. Da der Luftwiderstand exponentiell zur gefahrenen Geschwindigkeit ansteigt, sind Verbesserungen der Aerodynamik besonders wirksam und wichtig. Viele Hersteller und Teams optimieren Material und Position längst im Windkanal. Das Ergebnis: Das Peloton fährt immer schneller, im Finale erreichen Top-Sprinter Geschwindigkeiten von bis zu 70 km/h - in der Ebene wohlgemerkt. Neue Tubeless- und Clincher-Reifen reduzieren zudem den Rollwiderstand, bringen so ein weiteres Plus an Geschwindigkeit.
Die erhöhte Geschwindigkeit trifft zudem auf eine erhöhte Zahl an Teams: 23 Mannschaften sind in diesem Jahr dabei. Zwar anders als früher mit acht und nicht mehr mit neun Fahrern je Team, dafür aber eben mit mehr unterschiedlichen Interessen. So kämpfen inzwischen auf den Flachetappen ein gutes Dutzend Sprintkapitäne um den Tagessieg, während Klassementfahrer ebenfalls ganz vorne fahren wollen, um Stürzen aus dem Weg zu gehen. Und all die Kapitäne haben jeweils Helfer vor sich, die Erstere aus dem Wind halten sollen. Es wird also ziemlich voll an der Spitze des Rennens.
Und schließlich spielt auch die Streckenführung eine Rolle. Waren enge Ortsdurchfahrten wie zum Auftakt in der Bretagne bei etwas niedrigeren Geschwindigkeiten früher noch machbar, werden sie heute zum gefährlichen Nadelöhr. Zudem wurden in den vergangenen Jahren mehr Verkehrsberuhigungen wie Inseln oder Speedbumber gebaut, was manche Zielanfahrt zu einem gefährlichen Hindernisparcours macht. Baut ein Rennveranstalter dann im Ziel noch eine Bergabpassage ein, wird es schnell lebensgefährlich: Bei der Polen-Rundfahrt wurde der niederländische Radprofi Fabio Jakobsen nach einem Sturz bei Tempo 80 ins künstliche Koma versetzt, er überlebte mit vielen Knochenbrüchen. Seitdem tobt die Sicherheitsdebatte im Radsport.
Aus Sicht der Profis ist das Maß voll: "Einfach kriminell" sei die Streckenführung der aktuellen Tour de France, meinte der Deutsche Nils Politt, der polnische Ex-Weltmeister Michal Kwiatkowski sprach von "russischem Roulette" und dem deutschen Routinier André Greipel fehlten "da echt die Worte". Die veranstaltende ASO wies die Kritik der Fahrer zurück und sprach von riskanter Fahrweise. Doch Streckenchef Thierry Gouvenou räumt ein: "Es wird zunehmend schwerer, geeignete Zielorte zu finden. Es gibt einfach keine mittelgroße Stadt ohne Verkehrsinsel, Kreisverkehr oder Straßenverengung mehr. Vor zehn Jahren hatten wir 1100 gefährliche Stellen bei der Tour. In diesem Jahr sind es 2300."
Die Tour hat also ein Sicherheitsproblem, das auch die 14.000 anwesenden Gendarmen nicht beheben können: Die Tour ist zu schnell und zu groß geworden für manche Streckenabschnitte. Also nur noch Etappen auf breiten Nationalstraßen oder gar Autobahnen? Undenkbar in Frankreich. Denn es sind ja die unmittelbare Nähe zu den Fans sowie die Tatsache, dass die Tour auch die kleinen Ortschaften besucht, die die Faszination des Events ausmachen. Doch das Rad der Entwicklung lässt sich nicht zurückdrehen, die Tour wird mit sich bereits andeutenden Entwicklungen bei Reifen, Rahmen und Rädern sowie weiteren Optimierungen der Trainingssteuerung noch schneller werden. Und damit wird die Frage unausweichlich: Quo vadis, Tour de France?