Merkels verlustreicher Sieg
24. September 2017Das Ergebnis ist eine Bestätigung und dennoch ein Denkzettel für die Bundeskanzlerin. Mit 33 Prozent verliert ihre Union 8,5 Prozent Prozent im Vergleich zu 2013, doch im neuen Bundestag sitzen fortan sechs statt fünf Parteien. Die politische Konkurrenz ist größer geworden. Und mit der AfD rückt eine rechtspopulistische Partei als drittstärkste Kraft ins Parlament. Eine neue Herausforderung für Angela Merkel. Als Erkenntnis des Abends bleibt auch: Merkel kann deutlich verlieren und immer noch komfortabel weiterregieren, trotz schlechtestem Unionsergebnis seit 1949.
Jamaika vor der Premiere
Trotzdem: Ein politisches Erdbeben ist ausgeblieben. Das zweistellige Votum für die AfD war erwartet worden, der weitere Niedergang der Sozialdemokraten ebenfalls. Mit dem Wiedereinzug der Liberalen besteht für Angela Merkel nun eine neue Koalitionsvariante. Rechnerisch reicht es für ein Dreierbündnis aus Union (schwarz), FDP (gelb) und den BündnisGrünen (grün). Das ist politisches Neuland, die Koalitionsverhandlungen dürften lange andauern.
Ansonsten bleibt die Erkenntnis: Keine Experimente. Deutschland bleibt nach dieser Wahl was es ist - eine politische, gesellschaftliche, wirtschaftliche Ruhezone. Aufgeregtheiten gibt es anderswo: in Erdogans Türkei, Trumps USA, Putins Russland und im EU-Aussteigerland Großbritannien. Und auch sonst sind die Zeiten für viele zum fürchten. Terrorangst und Populismus greifen um sich. Doch in Deutschland herrscht weitgehend Ruhe. Die Bundestagswahl wirkt da fast wie ein psychologisches Gesundheitsattest.
Merkels vierte Amtszeit
Nun also noch einmal vier Jahre Merkel - wenn sie durchhält. Doch die kontrollierte Protestantin gilt als Pflichtmensch, was sie anfängt, bringt sie zu Ende. Aber wie?
Als erste Frau in diesem Amt und als Langzeitkanzlerin ist sie schon jetzt ein Fall für die Geschichtsbücher. Doch um Bleibendes zu hinterlassen, fehlt ihr noch der große Polit-Coup. Adenauer integrierte die alte Bundesrepublik in den Westen, Brandt schaffte mit seiner Ostpolitik eine Annäherung in Kalte-Kriegszeiten, Kohl organisierte die Einheit, Schröder krempelte den Sozialstaat um. Was aber bleibt von Merkel?
Für alle überraschend öffnete sie 2015 die Grenzen für mehr als eine Million Flüchtlinge. Zwischen Rührung und Empörung hielt sie Kurs. Sie widersetzte sich einer Aufnahme-Obergrenze und nahm damit die Verfassung wörtlich, die für das Asylrecht keine Limitierung vorsieht. Nun muss sie die Herausforderung organisieren. Bleibende integrieren, "falsche" Flüchtlinge wieder zurückschicken. Ein Langzeitprojekt.
Das Beste zum Schluss?
Eine Baustelle auch die EU. Innerhalb der europäischen Familie hängt der Haussegen schief. Das historische Stiefkind Großbritannien will sich nun alleine in der globalisierten Welt neu erfinden, der Ausstieg ist noch zu regeln. Allein das eine Mammutaufgabe für Merkel. Aber auch die südlichen EU-Länder begehren auf und wollen das deutsche Spardiktat nicht länger erdulden. Merkel gilt zwar als Gralshüterin der europäischen Idee, doch die Schuldenstaaten fühlen sich vom starken Deutschland gepresst. Sie will, sie muss den Laden zusammenhalten. Wenn nicht, wird der Ruf nach dem Nationalstaat wieder laut.
Und auch der Trend zur Großmannssucht um Deutschland herum lastet schwer auf Merkels Schultern. Nicht nur Trump will sein Amerika wieder great machen, auch Putin und Erdogan betreiben eine Politik der "dicken Hose". Längst gilt sie international als die "Anti-Trump". Sie kann Provokationen widerstehen, ohne nachzugeben. Immer sparsam in Gestik, Mimik und Wortwahl. Unterschätzt wird sie schon lange nicht mehr. Das war mal anders.
Mit Raute und geräuschloser Härte
Schon 2005 gelingt ihr der Sprung ins Kanzleramt. Zweimal regiert sie in Großer Koalition mit der SPD, einmal mit den Liberalen. In der eigenen Partei lässt sie die männlichen Alphatiere reihenweise ins Leere laufen. Wer nicht von alleine Konsequenzen aus seiner Chancenlosigkeit ihr gegenüber erkennt, wird weggelobt. Christian Wulff darf Bundespräsident werden, um erst dann zu stolpern.
Noch verblüffender ist ihr Erfolg gegenüber der politischen Konkurrenz. Das sozialdemokratische Quartett der vier S-Kanzlerkandidaten (Schröder, Steinmeier, Steinbrück, Schulz) verschleißt sie zwischen 2005 und 2017 nahezu im Alleingang. Und auch inhaltlich absorbiert sie die Opposition bis zur Konturlosigkeit. Mit der Sozialdemokratisierung der Union hat sie die SPD dauerhaft verzwergt, selbst eingefleischte SPD-Wähler laufen zu Merkel über.
Und mit ihrem Atomausstieg, ihrem Engagement gegen den Klimawandel und der Flüchtlingspolitik beackert sie Kernthemen der Grünen. Sie konnte sich sogar den Luxus leisten, kurz vor der Wahl die Ehe für alle - lange ein Reizthema in der eigenen Partei - im Bundestag beschließen zu lassen und selbst dagegen zu stimmen. Im Ergebnis ist sie mit diesem Pragmatismus unbestritten erfolgreich. Sie neutralisiert die Opposition. Nur weiß die CDU manchmal nicht mehr was an ihr noch konservativ ist. Doch als Partei, der es immer vor allem um die Macht ging, ist die Frage nach dem Profilverlust der Union nur eine akademische.
Ihre Aufgabe ab jetzt: "Anti-Trump" zu sein
Ihr erneuter Wahl-Triumph basiert in allererster Hinsicht auf Vertrauen. Das war schon 2013, bei der letzten Bundestagswahl so. Ein einziger Satz reichte, um für sich zu werben: "Sie kennen mich". Entsprechend präsidial ist ihr Politikstil. Anerkennung bekommt sie von fast überall. Selbst die Jungen finden sie toll. Gerade die unter 25-Jährigen können sich an eine Zeit ohne Merkel im Kanzleramt kaum erinnern.
Dabei hat sie es in der Kunst des Redens bis heute nicht geschafft, besser als Mittelmaß zu sein. Doch mit ihrer Handraute hat sie einen modernen Klassiker der Ikonographie geschaffen. Es ist der radikalste Minimalismus in der Politik und ihr Markenzeichen. Ruhe bewahren. Ein seltsam seltenes Pfund, mit dem sie nun wuchern muss, will sie 2021 als vollendete oder unvollendete Kanzlerin die politische Bühne verlassen.
Die New York Times hat sie zur "letzten mächtigen Verteidigerin Europas" gekürt. So viel Lob und Anerkennung werden ab jetzt zur Verpflichtung. Sie hat lange offen gelassen, ob sie noch einmal, zum vierten Mal, antreten wird. Die Wahl Donald Trumps am 9. November 2016 gab wohl den Ausschlag, wird aus ihrem Umfeld kolportiert. Da sie nach eigenen Worten nie als "halbtotes Wrack" aufhören wollte, traut sie sich die vierte Amtszeit zu - gesundheitlich wie politisch. Das Wählervotum hat sie. Jetzt muss sie liefern.