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Tschaikowski und die russische Homophobie

Anastassia Boutsko6. November 2013

Am 6. November 1893 starb Pjotr Tschaikowski. 120 Jahre später ist das "Nationalgenie" in den Mittelpunkt der gesellschaftlichen Diskussion geraten: Seine Homosexualität passt nicht in das ideologische Schema.

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Der bedeutende russische Komponist Peter Iljitsch Tschaikowsky (u.a. "Eugen Onegin", Schwanensee", "Der Nussknacker") in einem zeitgenössischen Ölgemälde von N. D. Kuznetsow aus dem Jahre 1893. Er wurde am 7. Mai 1840 in Wotkinsk geboren und starb am 6. November 1893 in St. Petersburg.
Bild: picture-alliance/dpa

Es war eine kalte Novembernacht in Sankt Petersburg - Nieselregen. Vor dem Haus Nummer 13, Kreuzung Malaja Morskaja und Gorokhovaja-Straße, nahe der Eremitage, standen trotz der frühen Morgenstunde mehrere Kutschen. Boten gingen ein und aus, Reporter warteten in einer Kneipe gegenüber. Um 3 Uhr 15 wurde es dann verkündet: Tschaikowski ist tot.

Nikolaj Mamonov, einer der behandelnden Ärzte, nannte als Todesursache die "asiatische Cholera" - jene Infektionskrankheit, die im Europa des 19. Jahrhunderts Zehntausende das Leben kostete. Zar Alexander III. sprach als einer der ersten sein Beileid aus, und Tschaikowski wurde mit einem Staatsbegräbnis beigesetzt.

Zum Begräbnis des Komponisten am 10. Novermber in Petersburg kamen Tausende
Zum Begräbnis des Komponisten am 10. Novermber in Petersburg kamen TausendeBild: Tschaikowski-Museum in Kilin

Cholera oder Selbstmord?

Dennoch speisen sich zahlreiche Gerüchte und wildeste Spekulationen aus den Umständen des Todes des nicht einnmal 54-jährigen Komponisten. So beispielsweise dass der Komponist eine öffentliche Enthüllung seiner Homosexualität fürchtete und aus Angst vor einem gesellschaftlichen Skandal Selbstmord begangen hätte. Oder auch: Auf Befehl des Zaren hätte der Komponist ein Glas choleraverseuchtes Wasser getrunken, als Strafe für eine homoerotische Verbindung zu einem Mitglied der Zarenfamilie. Auch unterschiedliche Vergiftungstheorien kursierten in Petersburg und Europa.

Gerüchteküche kocht bis heute

"Das einzige, was mich wundert, ist, das diese Theorien bis heute überdauert haben", sagt Valery Sokolov, Buchautor und einer der führenden russischen Tschaikowski-Forscher, in einem DW-Gespräch.

Die hartnäckigen Mord- beziehungsweise Selbstmord-Szenarien hält der Wissenschaftler für "Unsinn". Vielmehr hätte die allgemeine körperliche Schwächung durch unzählige Gastspiele und Konzerte eine Rolle gespielt. Die Premiere der "Pathetique", die Tschaikowski selbst als "Schlussstein seines Schaffens" betrachtete, hatte ihm einiges an Kraft gekostet und eventuell so etwas wie ein "Burn-out" beschert.

Totenmaske von Pjotr Tschaikowski
Totenmaske des KomponistenBild: Tschaikowski-Museum in Klin/Veydman

Auch auf die Frage, wie die Cholera-Erreger in den Organismus des gutbetuchten Großbürgers gekommen sind, hat der Forscher eine schlüssige Erklärung. Im Sommer 1893 war Pjotr Tschaikowski zu Gast bei seinem Bruder Anatolij, der als Vize-Gouverneur in Nischnij Novgorod aktiv an der Bekämpfung einer Cholera-Epidemie teilnahm. Da sei es wohl passiert.

Schwul und glücklich?

"Wenn ich heute manchmal lesen und hören muss, Tschaikowski wäre gar nicht homosexuell gewesen, das hätten unpatriotische Wissenschaftler erfunden, kann ich nur lachen", sagt Polida Veydman, Direktorin des Tschaikowski-Museums in Klin bei Moskau, "seine Homosexualität zu leugnen ist absurd". Man brauche nur die Briefe oder Tagebücher des Komponisten zu lesen, in denen er sehr offen von seinem intimen Leben berichte, von Liebschaften und Enttäuschungen.

Auch die Einstellung, die Homosexualität hätte nichts mit seinem Schaffen zu tun, hält die Tschaikowski-Kennerin Veydman für falsch: "Sein Schaffen ist stets tief autobiografisch gezeichnet. Natürlich spielt ein so entscheidender Bestandteil seiner Persönlichkeit eine wichtige Rolle".

Man dürfe das Genie nicht auf seine sexuellen Vorlieben reduzieren, meint Valery Sokolov. "Die Erkenntnis seines Andersseins war für den jungen Tschaikowski schon ein schmerzhafter Prozess", so Sokolov. "Als er in den 1870er Jahren sah, dass viele seiner Jugendfreunde das Schwulsein mit einer Ehe vertuschen konnten, hat er das auch für sich als Option begriffen". Er heiratete Antonina Miljukova - eine junge Frau, die ihm Liebesbriefe schrieb und ihn womöglich an Puschkins Tatjana aus "Eugen Onegin" erinnerte.

Ken Russels Film "Music lovers" geht mit biografischen Tatsachen locker um
Ken Russels Film "Music lovers" geht mit biografischen Tatsachen locker umBild: picture alliance/United Archives

In den reiferen Jahren stand Tschaikowski sehr offen zu seiner Homosexualität. Eine Verfolgung des Komponisten wegen seiner erotischen Vorlieben schließen die Forscher aus: In den höheren Kreisen der russischen Gesellschaft herrschte damals eine große Toleranz gegenüber Homosexuellen.

"Wir lieben ihn nicht deswegen"

Offensichtlich eine viel größere als im modernen Russland, das mit dem Thema "Homosexualität des nationalen Komponisten Nummer eins" ein ziemliches Problem hat. Sowohl die allgemein noch sehr konservativ eingestellte Gesellschaft, als auch die offizielle Ideologie zeigen deutliche Berührungsängste.

Sogar Präsident Putin meldete sich in einem Fernsehinterview Anfang September zu Wort mit dem wegweisenden Spruch: "Man sagt, Tschaikowski war ein Homosexueller. Aber wir lieben ihn nicht deswegen". Und schon lief in der Presse eine Kampagne mit dem Ziel, Tschaikowski vor Verleumdungen zu schützen. Besorgte Mütter erkundigten sich an der Theaterkasse, ob die Aufführung von Tschaikowskis "Nussknacker" jugendfrei sei.

Eine platonische Liebe: Tschaikowski und sein Neffe Vladimir ("Bob") Davydov
Eine platonische Liebe: Tschaikowski und sein Neffe Vladimir ("Bob") DavydovBild: Tschaikowski-Museum in Kilin

Auf der Liste der homophoben Skurrilitäten zu finden ist auch die Streichung der staatlichen Förderung für einen Tschaikowski-Film. Der russische Theaterregisseur und Kultfigur der Schwulengemeinde Kirill Serebrennikov betonte vergeblich, sein Film würde das Leben Tschaikowskis "nicht aus der Bettperspektive" erzählen.

Hatte Tschaikowski deutsche Vorfahren?

Seriöse Forscher wie Polina Veydman oder Valery Sokolov halten von dieser "Jubiläumskampagne" nicht viel. Aber wenn es schon um Sensationen gehen soll, dann haben sie etwas anderes im Angebot: Jüngste Forschungen haben ergeben, dass der als "russischste Komponist aller Zeiten" gepriesene Tschaikowski auch deutsches Blut hatte.

Sein Großvater mütterlicherseits, Michael Heinrich Maximilian Acier, der Anfang des 19. Jahrhunderts nach Russland einwanderte, hatte zwar einen französischen Vater, aber auch eine deutsche Mutter, Maria Christina Eleonora Wittig. Urgroßvater Michel Victor Acier, in Paris ausgebildeter Bildhauer und Modellmeister bei der berühmten Meissner Porzellanmanufaktur, und Wittig heirateten in Meissen, wo auch deren Sohn, eben der Großvater Tschaikowskis, zur Welt kam. Tschaikowskis heiß geliebte Kinderfrau, Fanny Dürbach, stammte dazu aus dem Elsass, und so kam es, dass der kleine Pjotr schon im Alter von sechs Jahren fließend Deutsch sprach.