Tschechien will zwangssterilisierte Romnija entschädigen
15. März 2021Tausende Romnija - weibliche Angehörige der Roma-Minderheit - mussten sich in der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik einer Sterilisation unterziehen. Die meisten Zwangsoperationen wurden in den 1970er und 1980er Jahren durchgeführt; aber auch nach dem Fall des Kommunismus 1989 und nach Auflösung des gemeinsamen Staates der Tschechen und Slowaken 1992 kam es in den Nachfolgestaaten Tschechische Republik und Slowakei weiter zu Zwangssterilisationen.
Nach mehreren erfolglosen Versuchen hat die tschechische Abgeordnetenkammer am 10. März 2021 endlich in erster Lesung einen Gesetzentwurf zur Entschädigung der Opfer genehmigt. Darin ist eine einmalige Zahlung von rund 12.000 Euro pro zwangssterilisierter Frau vorgesehen.
Nun muss der Entwurf des Entschädigungsgesetzes vor den im Oktober 2021 anstehenden Parlamentswahlen von beiden Kammern der tschechischen Volksvertretung - Abgeordnetenkammer und Senat - gebilligt werden. Gelingt das nicht, muss die Vorlage nach der Wahl vom neuen Parlament erneut verhandelt werden.
Helena Válková von der Regierungspartei "Aktion unzufriedener Bürger" (ANO) ist sicher, dass die Entschädigung für Zwangssterilisation in dem EU-Land vorher Gesetz sein wird. Die Ex-Justizministerin und Kommissarin für Menschenrechte der tschechischen Regierung hat die Gesetzesvorlage ins Parlament gebracht.
Die Zeit drängt
"Nachdem ich mein Amt als Menschenrechts-Kommissarin übernommen hatte, habe ich eine Liste von Punkten erstellt, die dringend angegangen werden müssen - und diese Angelegenheit war eine davon", erklärt Válková gegenüber der DW. Tatsächlich gelang es der ANO-Politikerin, im gesamten politischen Spektrum Unterstützung für ihren Entschädigungsvorschlag zu gewinnen - mit Ausnahme der rechtsextremen Bewegung "Freiheit und direkte Demokratie" (Svoboda a přímá demokracie).
Válková verweist nicht nur auf die Geschwindigkeit, mit der ihr Entwurf von der Abgeordnetenkammer verabschiedet wurde, sondern auch auf die große Mehrheit von 77 der 99 anwesenden Abgeordneten, die mit Ja gestimmt hatten: "Diese Tatsache gibt mir Hoffnung, dass das Gesetz vor den Wahlen verabschiedet werden kann. Das ist wichtig, denn die betroffenen Frauen sind heute im Alter zwischen sechzig und siebzig Jahren. Ich will nicht, dass sie noch weitere Jahre warten müssen."
Schätzungsweise vierhundert Berechtigte
Der Entwurf des Entschädigungsgesetzes sieht vor, dass Frauen, die gegen ihren Willen sterilisiert wurden, zuerst ihren Anspruch nachweisen müssen. Den soll dann eine Sonderkommission des Gesundheitsministeriums beurteilen. "Dieses Vorgehen war nötig, um den Entwurf durchsetzbar zu machen", erklärt Válková gegenüber der DW.
"Zudem war es wichtig anzumerken, dass nicht etwa einige Tausend Menschen Anspruch haben, sondern schätzungsweise vierhundert", so die tschechische Menschenrechtskommissarin weiter. "Die Entschädigung wird also nicht Milliarden von Kronen kosten, wie zuvor manchmal behauptet wurde."
Eugenische Monstrosität
Válková zufolge wurde die Höhe der einmaligen Entschädigung auf der Grundlage eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte aus dem Jahr 2011 festgelegt. Dort hatten slowakische Romnija gegen die Slowakei wegen ihrer Zwangssterilisationen geklagt und ähnliche Beträge bekommen.
Obwohl sich der tschechische Staat 2009 für die Zwangssterilisation entschuldigt hat, steht er nach Ansicht vieler tschechischer Politiker immer noch in der Schuld gegenüber den Opfern. "Eine Entschädigung für Opfer illegaler Sterilisation würde sehr schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen ausgleichen - und gleichzeitig ein klares Signal für unsere Gesellschaft sein, damit ähnliche eugenische Monstrositäten nicht wiederholt werden", so Pavla Golasowská, Abgeordnete der "Christlichen und Demokratischen Union - Tschechoslowakische Volkspartei" (KDU-ČSL) in der Abgeordnetenkammer.
Staatspolitik des kommunistischen Regimes
Bisher gibt es keine genauen Statistiken darüber, wie viele Romnija von der Zwangssterilisation betroffen waren. 2005 veröffentlichte das Büro des tschechischen Bürgerbeauftragten einen Bericht, in dem es heißt, dass "die tschechoslowakische Regierung von 1970 bis 1990 Roma-Frauen methodisch sterilisiert hat, um die unerwünscht hohe Geburtenrate der Minderheit zu senken".
Im Jahr 2016 berichtete die damalige tschechische Bürgerbeauftragte Anna Šabatová auf einer von der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) organisierten Konferenz zur Zwangssterilisation, die Opfer hätten unter dem kommunistischen Regime nach dem Eingriff eine besondere Sozialleistung erhalten.
Zwangssterilisationen bis 2007
Das Büro des Bürgerbeauftragten hat in der Vergangenheit mehr als fünfzig Fälle von Zwangssterilisation untersucht - und Verstöße gegen die Menschenrechte festgestellt. "Mütter, die mehr als zwei Kinder hatten, berichteten, dass Ärzte versuchten, sie zu einer Abtreibung zu überreden, weil sie bereits 'viele Kinder' hätten", so Šabatová.
Die Praxis der Zwangssterilisation endete 1990 nicht vollständig. Zwar wurden die entsprechenden kommunistischen Gesetze aufgehoben - aber es kam immer wieder zu einzelnen Fällen, und das sogar nach dem Jahr 2000. Laut dem tschechischen Roma-Nachrichtenportal romea.cz stammt der letzte bekannte Fall einer gegen ihren Willen sterilisierten Romni aus dem Jahr 2007.
Wie auf der bereits erwähnten OSZE-Konferenz 2016 festgestellt, sind Fälle von Zwangssterilisation von Romnija aus den vergangenen Jahrzehnten "in der Tschechischen Republik, Ungarn, der Slowakei, Schweden, Norwegen, Deutschland und Usbekistan dokumentiert". Schon damals forderte die Konferenz Tschechien auf, die Opfer zu entschädigen. Nun endlich scheint es dort den Willen zu geben, wenigstens einen symbolischen Schritt zu tun.