Tschetschenien: Homosexuelle in Todesangst
20. April 2017"Sie sind komplett verzweifelt, sie können nicht schlafen, haben Depressionen" - 59 Männer haben beim russischen LGBT-Netzwerk bisher um Hilfe gebeten. Die meisten von Ihnen befänden sich nach wie vor in einem Zustand von Panik, berichtet die Vorsitzende Tatyana Vinnichenko. "Viele wurden in Polizeigewahrsam geschlagen. Andere haben ein Trauma von den Elektroschocks. Sie alle brauchen medizinische Hilfe."
Anfang April berichtete die russische Tageszeitung "Nowaja Gaseta" erstmals, dass über 100 Männer in Tschetschenien festgenommen und gefoltert worden sein, aus dem einfachen Grund, dass sie schwul oder bisexuell sind. Zudem berichtete die Zeitung, dass mindestens drei von ihnen getötet worden seien.
Wie viele Männer wirklich betroffen sind, sei schwierig zu sagen, so die Aktivistin Vinnichenko. Es könnten Hunderte sein. Das LGBT-Netzwerk hat eine Hotline für die Betroffenen eingerichtet. Rund ein Drittel der Personen, die die Organisation derzeit betreut, war in Tschetschenien in Gefangenschaft. Andere hatten Glück und konnten fliehen, noch bevor sie festgenommen wurden. Die Erfahrungen haben Spuren bei den Männern hinterlassen, sowohl körperliche als auch seelische.
Homosexuelle haben Angst vor der eigenen Familie
"Für die Mehrheit dieser Männer kam die Verfolgung unerwartet", berichtet Tatyana Vinnichenko. Viele hätten kein Geld, sie haben ihre Arbeit verloren und zurück zu ihren Familien können sie auch nicht. Der Grund: Fast alle Männer befürchteten, Opfer eines Ehrenmordes zu werden, erzählt die Aktivistin.
Tschetschenien ist eine mehrheitlich muslimische Region und extrem konservativ. Wird bekannt, dass ein Angehöriger schwul ist, dann würde dies als Beschmutzung der familiären Ehre angesehen, berichtet die russische LGBT-Aktivistin. Viele betroffene Männer erzählen, dass die tschetschenische Polizei den Familien der wieder freigelassenen Männer von deren sexueller Orientierung erzähle. "Im Grunde rufen sie damit die Verwandten dazu auf, die Männer zu töten", sagt Vinnichenko.
Auch in Russland keine Sicherheit
Deswegen unterstützt die Organisation die Männer auch bei der Suche nach einer neuen Unterkunft in Russland. Doch auch hier fühlten sie sich nicht sicher, berichtet die Aktivistin. Viele fürchten sich vor in Russland lebenden Tschetschenen, die die Verfolgung auch außerhalb der Heimat fortführen könnten. Die meisten wollen Russland am liebsten komplett verlassen.
Doch auch in Russland ist Homophobie weit verbreitet. Seit dem Jahr 2013 ist "homosexuelle Propanda" dort verboten. Die Reaktion Russlands auf die Berichte aus Tschetschenien war sehr verhalten. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow sagte zunächst nur, es gäbe keine "zuverlässigen Informationen" über die Verfolgung von Schwulen und Bisexuellen in Tschetschenien.
Auch wenn die russische Hohe Kommissarin für Menschenrechte Tatyana Moskalkova kurz nach dem Zeitungsbericht sagte, sie würde sich um Informationen von tschetschenischen Behörden bemühen, brauchte es mehr als zehn Tage, bis die russische Generalbundesanwaltschaft bekanntgab, dass die tschetschenischen Behörden die Vorwürfe untersuchten.
In der Zwischenzeit wiesen diese die Vorwürfe rabiat zurück. Der Pressesprecher des tschetschenischen Präsidenten Ramsan Kadyrow sagte, es sei "unmöglich, etwas festzunehmen und zu unterdrücken, was es in der Republik schlicht nicht gebe."
Russische Journalistin auf der Flucht
Auch die Journalistin der Zeitung "Nowaja Gaseta" Elena Milaschina, die den ersten Bericht veröffentlichte, sowie einige ihrer Kollegen müssen mittlerweile um ihr Leben fürchten. Sie seien massiven Drohungen der politischen und religiösen Führung aus Tschetschenien ausgesetzt, berichtet die Journalistenorganisation Reporter ohne Grenzen (ROG). Sogar Vergeltung sei ihnen angedroht worden. Milaschina sei mittlerweile aus Moskau geflohen, so ROG. Der tschetschenische Präsident Ramsan Kadyrow regiert die Teilrepublik seit 2007 und steht auf der ROG-Liste der weltweit größten Feinde der Pressefreiheit. Auf der Rangliste der Pressefreiheit steht Russland auf Platz 148 von 180 Staaten.
Die russische Aktivistin Tatyana Vinnichenko glaubt nicht, dass die Ermittlungen durch die tschetschenischen Behörden zu glaubhaften Ergebnissen führen werden. Auch Russland sei nicht daran interessiert, die tschetschenischen "Kriminellen aus der Polizei" in Russland vor Gericht zu bringen. Deswegen will sich Vinnichenkos Organisation nun an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wenden.
Nur der von Moskau unterstützte tschetschenische Präsident Kadyrow könne die Gewalt gegen Homosexuelle stoppen, sagt Vinnichenko. Damit rechnet sie nicht. Die einzige Option für die von Verfolgung bedrohten Männer wäre wohl vorerst nur zu fliehen.