"Ich habe selbst Angst"
23. Dezember 2016Mit hoher Wahrscheinlichkeit hat der 24-jährige, in Mailand erschossene Tunesier Anis Amri am 19. Dezember zwölf Menschen auf dem Berliner Breitscheidplatz getötet. Wie fühlen sich junge Tunesier in Deutschland nach dem Anschlag? Haben sie Angst vor Vorurteilen und Anfeindungen? Und wie schauen sie von Deutschland aus auf Tunesien, ein Land zwischen demokratischem Aufbruch und Terror? Die DW hat unter anderem mit einem Tunesier gesprochen, der den gleichen Nachnamen wie der mutmaßliche Attentäter hat.
Samih Amri, 29, seit sechs Jahren in Deutschland, lebt in Berlin
"Als es kurz nach dem Anschlag hieß, der Verdächtige sei Pakistani, war ich ehrlich gesagt ein bisschen erleichtert. Ich habe mir gedacht: 'Gott sei Dank ist es kein Tunesier wie in Nizza.' Als ich später dann erfahren habe, dass der mutmaßliche Täter doch Tunesier ist, war das ein großer Schock. Der zweite Schock war, als herauskam, dass sein Nachname Amri ist.
In den letzten Jahren waren Tunesier oft an IS-Anschlägen beteiligt, ob im Irak, in Syrien, in Frankreich und in Tunesien selbst. Ich bin erschüttert und traurig, dass es jetzt auch in Berlin passiert ist. Ich lebe seit sechs Jahren in Deutschland habe bisher keine Anfeindungen, keinen Rassismus erlebt, auch nicht nach diesem Anschlag. Die Sache mit dem Nachnamen versuche ich mit Humor zu sehen. Viele Kollegen und Freunde haben mich angerufen, jeder, der mich kennt, ist mir in den letzten Tagen mit einem Lachen begegnet. Natürlich habe ich ein wenig Angst vor Vorurteilen, besonders vor dem Hintergrund, dass der Rechtsextremismus in Europa wächst. Aber auf der anderen Seite bin ich mir sicher, dass die Deutschen klug genug sind, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden.
90 Prozent der Tunesier in Deutschland sind Akademiker, die nichts mit dem Terror zu tun haben. Die, die ich kenne, sind sehr gut integriert. Wir haben natürlich über den Anschlag gesprochen und sind verzweifelt, denn so eine Tat schadet nicht nur den Tunesiern hier, sondern auch dem Bild von Tunesien als junger Demokratie, als Anstoß des Arabischen Frühlings.
Über die Entwicklungen, die in den letzten sechs Jahren in Tunesien stattgefunden haben, könnte ich stundenlang sprechen. Kurz: Wenn man 50 Jahre in einer Diktatur lebt und auf einmal Freiheit hat, kann es schiefgehen. Und genau das ist in Tunesien passiert. Junge Menschen ohne Perspektive haben sich radikalisiert. Ich glaube, die Deutschen haben eine heterogene Vorstellung von dem Land: Tunesien ist für sie ein Urlaubsland, eine junge Demokratie, aber auch ein Land, das Terroristen exportiert.
Die jetzige Situation ist ähnlich wie nach den Terroranschlägen in Tunesien 2015. Man schämt sich. Man denkt: 'Schon wieder ein Tunesier‘. Man fragt sich: Was ist los mit diesem Land? Wir verstehen selbst nicht mehr, was da läuft.
Ich kann nicht einschätzen, ob es für uns Tunesier in Deutschland einen Unterschied macht, dass Anis Amri jetzt tot ist. Ich weiß nur, dass jetzt jeder diesen Namen kennt und ich damit etwas vorsichtiger umgehen werde."
Hind Ben Othman, 29, in Deutschland geboren und aufgewachsen, lebt in Paris
"Nach dem Anschlag in Berlin war ich noch trauriger als vorher schon. Gerade jetzt, wo Tunesien versucht, die eigene Vergangenheit zu bewältigen und in meinen Augen zeigt, dass sich die Tunesier aktiv darum bemühen, in eine bessere Zukunft zu blicken, passiert so etwas. Ich war traurig darüber, dass dieser schlimme Vorfall in Berlin die Öffentlichkeit mit viel mehr Nachdruck dazu bewegt, auf das Land zu blicken - und das nicht immer sehr differenziert. Zumindest kann ich das von Frankreich behaupten, wo ich seit mehr als drei Jahren lebe.
Angst vor Anfeindungen oder Vorurteilen habe ich persönlich nicht. Als Frau habe ich es aber vielleicht auch leichter. Orientalisch aussehende Männer haben bestimmt mehr mit Vorurteilen zu kämpfen als eine Frau mit dem gleichen Hintergrund, jedenfalls bekomme ich das durch meinen Freundeskreis mit. Ich habe aber Angst, dass die Tunesier, die schon seit Jahren friedlich und ohne Probleme hier leben - sei es in Frankreich, Deutschland oder anderswo auf der Welt - ins gleiche Licht gesetzt werden, wie ein tunesisch-stämmiger Terrorist. Ich werde tatsächlich viel häufiger auf mein Herkunftsland angesprochen, wenn etwas Schlimmes passiert, als wenn etwas Positives darüber berichtet wird.
Vor allem finde ich es etwas verletzend, wenn Leute von "dein Land" oder "dein Landsmann" sprechen, auch wenn es überhaupt nicht böse gemeint ist. Ich bin in Europa geboren und aufgewachsen und nehme Tunesien nicht unbedingt als "mein Land" wahr, sondern eher Deutschland. Ich selbst entdecke Tunesien immer wieder neu, und bin durchaus positiv überrascht, wie vielseitig das Land ist.
Ich denke, dass es gefährlich ist, tunesisch-stämmige Europäer so schnell in eine Schublade zu stecken, sobald etwas Schlimmes passiert, was ihr Herkunftsland betrifft. Auch wir - Tunesier in Europa - brauchen Zeit und Raum, solch ein Ereignis zu verarbeiten und nach Antworten zu suchen."
Fedi El Arbi, 30, seit 12 Jahren in Deutschland, lebt in München
"Seit der Revolution gibt Tunesien in Sachen Terror kein gutes Bild ab. Rund 4000 Tunesier sollen in Syrien kämpfen, ein Tunesier steckt hinter dem Attentat von Nizza, auch in der IS-Führung soll es Tunesier geben. Ich persönlich stelle mir die Frage: Wie kann es sein, dass das Bildungssystem in meinem Land so versagt hat, dass sich so viele junge Leute radikalisieren? Das sind Leute, die wahrscheinlich aus der gleichen Gegend kommen wie ich, die vielleicht zu der gleichen Schule gegangen sind.
Die islamistische Regierung, die nach der Revolution zwei Jahre lang an der Macht war, hat salafistischen Gruppen das Feld überlassen. Ich glaube, hätten sie das damals mehr im Auge behalten, wären wir nicht da, wo wir jetzt sind. Das Bild von Tunesien als Land, wo man ruhig Urlaub machen kann, ist gefährdet. Wenn jetzt eine Wirtschaftskrise kommt, sehe ich die junge Demokratie in Gefahr, weil die Menschen von der neuen Freiheit nichts Greifbares bekommen.
Wenn so ein Attentat passiert, kann man unabhängig von der Herkunft des Täters erst mal nur schockiert sein. Im einem zweiten Schritt hofft man natürlich, dass der Attentäter nicht die gleiche Herkunft hat wie man selbst. Das ist vielleicht egoistisch, aber ich glaube, jeder würde so denken. Man will einfach nicht mit sowas Abscheulichem assoziiert werden.
Anfeindungen habe ich in Deutschland bisher nicht erlebt. Ich habe immer noch das gleiche Ansehen bei meinen Kunden. Bis auf ein paar dumme Witze in meinem Freundeskreis passiert da nichts, das weiß ich sehr zu schätzen. Aber mein Umfeld ist nicht repräsentativ. Das sind alles aufgeklärte Akademiker. Ich glaube schon, dass andere Leute weniger differenzieren können.
Andererseits finde ich die Ängste vieler Leute berechtigt. Wie viel Islamismus muss man tolerieren? Wie geht man mit Menschen um, die potentiell gefährlich sind? Das sind alles Fragen, die mich auch beschäftigen. Ich verstehe, dass die Menschen Angst haben. Ich lebe auch hier, ich habe selbst Angst. Ich gehe hier in München gerne auf den Weihnachtsmarkt. Mich hätte es auch treffen können."
Die Gespräche führte Helena Kaschel.