Türkei ist Paradies für Mafiabanden
25. Dezember 2023"Meine verehrte Nation, heute haben wir in Alanya und Istanbul drei international gesuchte Gangsterbosse gefasst", verkündete Ali Yerlikaya diese Woche über die sozialen Medien. "Wie stark diese Banden auch sind oder mit welchem Haftbefehl sie gesucht werden, wir werden ihnen die Luft abdrehen!", gibt der türkische Innenminister sich kämpferisch.
Seit er im Juni sein Amt angetreten hat, vergeht kaum ein Tag ohne Festnahmen von Schwerstkriminellen. Darunter sind Drogendealer, Kredithaie, Menschenhändler, Betrüger und Diebe - aber auch führende Köpfe internationaler Banden, die sich in den letzten Jahren in der Türkei eingenistet haben.
Auch jüngst war das wieder der Fall. Gefasst worden seien Thomas Josef K., der Boss eines großen polnischen Drogennetzwerks, Daniel Alexander M., der im Zusammenhang mit einem tonnenschweren Kokainfund in Deutschland gesucht wurde, und P. Jin-king, Chef eines chinesischen Betrügernetzwerks, schrieb Innenminister Yerlikaya auf X, ehemals Twitter. Erst vergangene Woche vermeldete er die Verhaftungen dreier Bandenchefs mit belgisch-britischem, vietnamesischem und arabischem Hintergrund.
Vor etwas mehr als einem Monat hieß es dann, der türkischen Polizei sei es gelungen, der kompletten Führung der weltweit agierenden kriminellen Bande "Comanchero" das Handwerk zu legen. Unter den Verhafteten seien mehrere von Interpol per internationalem Haftbefehl gesuchte Mitglieder aus Australien und Neuseeland. Yerlikaya postete auch Videos von den Festnahmen.
Warum die Türkei?
Hinweise, dass sich internationale Banden in der Türkei niederlassen, häuften sich schon seit langer Zeit. Schießereien und Attentate waren nicht zu übersehen, es gab aber auch eine Handvoll Investigativberichte von Journalisten. Doch ernsthafte Ermittlungen oder gar Strafanzeigen gegen diese Gruppen gab es vor Yerlikayas Amtsantritt so gut wie nie. Denn der ehemalige Innenminister Süleyman Soylu pflegte selbst enge Beziehungen zur Mafia.
In Soylus Amtszeit wurden führende Mafiagrößen der türkischen Unterwelt aus der Haft entlassen. So entwickelte sich die Türkei zu einem Zufluchtsort internationaler Krimineller, vor allem aus Serbien, Albanien, Aserbaidschan, Russland und Montenegro. Auch ihre Konflikte tragen sie dort aus, das zeigt der Fall von Jovan Vukotic, einem Drogenboss des Skaljari-Clans vom Balkan. Am 8. September 2022 wurde Vukotic in Istanbul getötet. Wie Ermittlungen ergaben, soll ihn eine örtliche Mafiagruppe für ein Kopfgeld von 1,5 Millionen Euro umgebracht haben. Der Auftrag sei vom rivalisierenden Kavac-Clan gekommen.
Kavac und Skaljari - beides Drogenclans aus der montenegrinischen Hafenstadt Kotor - führen seit rund zehn Jahren einen regelrechten Krieg in Europa. In mehreren Ländern wurden bei ihren blutigen Auseinandersetzungen bislang rund 50 Menschen getötet. Auf DW-Anfrage gab das Bundeskriminalamt (BKA) 2022 an, die Türkei habe sich seit einiger Zeit als Rückzugsort auch für kriminelle Gruppierungen vom Westbalkan etabliert.
Razzien türkischer Behörden deckten auf, wie solche Gruppen von Spanien bis in die Türkei ihr Unwesen treiben. Beschlagnahmte Fotos und Dokumente zeugen von Entführungen, Folter und Mord.
Lasche Gesetze und goldene Pässe
Für Experten gibt es vier wesentliche Gründe, warum die Türkei in den vergangenen Jahren für viele Kriminelle eine zweite Heimat wurde. Erstens seien die Gesetze gegen Geldwäsche zu lasch. Zweitens erlasse die Regierung fast jedes Jahr eine Amnestie für Wirtschaftskriminelle. Drittens sei aus vielen Ländern eine visafreie Einreise möglich. Und viertens können Reiche schnell türkische Staatsbürger werden.
Wer 500.000 US-Dollar in die Türkei investiert oder diese für drei Jahre auf einem Bankkonto deponiert, oder wer für 400.000 Dollar eine Immobilie erwirbt, darf die türkische Staatsbürgerschaft beantragen. Laut Kristin Surak von London School of Economics and Political Science, die ein neues Buch über diese sogenannten "goldenen Pässe" geschrieben hat, lassen sich pro Jahr weltweit mehr als 50.000 Menschen auf diese Art in einem anderen Land einbürgern. Und fast die Hälfte dieser "goldenen Pässe" wird von Ankara vergeben.
Auch führende Mitglieder internationaler Banden können die türkische Staatsbürgerschaft annehmen, wenn sie die üblichen Voraussetzungen erfüllen und zum Zeitpunkt der Einbürgerung noch kein Interpol-Haftbefehl gegen sie vorliegt.
Furkan Sezer, ehemaliger Chef der Abteilung Wirtschaftskriminalität bei der Istanbuler Polizei, beobachtet die Szene seit Jahren. Ihm zufolge lassen sich viele Kriminelle zuerst einbürgern, anschließend holen sie auch ihr Vermögen ins Land. Dank der alljährlichen Amnestie sei dies auch sehr einfach. Diese erlaubt Menschen oder juristischen Personen, ihr nicht registriertes Vermögen aus dem Ausland oder Inland bei Finanzbehörden zu melden, teilweise sogar, ohne dies versteuern zu müssen.
Somit fließt Geld, dessen Ursprung unbekannt ist, in den legalen Finanzkreislauf. Ozan Bingöl, Experte für Steuerrecht, kritisiert diese Praxis. "Normalerweise zahlen Kriminelle für Geldwäsche 15 bis 20 Prozent des Wertes", sagt er. Die türkische Regierung biete ihnen dies hingegen steuerfrei. Und das öffnet seiner Ansicht nach den Kriminellen Tür und Tor. Bingöl bemängelt auch fehlende Befugnisse für Behörden beim Kampf gegen die Geldwäsche. "Wenn heute plötzlich jemand mit einer Million Dollar auftaucht, dürfen die Behörden nicht fragen, woher das Geld stammt", sagt er. Die jetzige AKP-Regierung habe diese Regelung nach ihrer Machtübernahme 2002 als eine ihrer ersten Vorhaben umgesetzt, so Bingöl.
Auch bei Krypto-Investitionen gebe es große Gesetzeslücken, die Bingöl zufolge viele internationale Banden in die Türkei lockten. Diese Investments müssten seiner Meinung nach schnellstmöglich reguliert werden.
Die Türkei steht auf der grauen Liste
Dass Ankara schärfer gegen Geldwäsche vorgehen muss, konstatierte auch das internationale Institut gegen Geldwäsche und Terrorfinanzierung FAFT (Financial Action Task Force). Das FAFT setzte das Land vor zwei Jahren auf ihre sogenannte graue Liste. Seitdem steht die Türkei unter genauerer Beobachtung. Zum nächsten Prüftermin im kommenden Juni strebt Ankara eine Streichung von dieser Liste an, denn die Wirtschaft ist ohnehin angeschlagen. Durch seine unkonventionelle Niedrigzinspolitik hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan das Land in eine tiefe Krise gestürzt. Die Lira verliert seit Jahren ununterbrochen an Wert, die Inflation steigt immer weiter an. Zuletzt lag sie bei fast 61 Prozent. Erdogans Einmischung in Geldpolitik und Justiz verschreckt auch ausländische Investoren.
Doch genau die braucht das Land. Der neue Finanzminister Mehmet Simsek, der nach den Wahlen im Mai das Ruder übernahm, versucht, die internationalen Geldgeber wieder ins Land zu locken. Er ist häufig auf internationalem Parkett unterwegs, versucht frisches Geld aufzutreiben und wirbt um Vertrauen. Um dies wiederherzustellen, müssen aber alle liefern. Nicht nur Simsek, sondern auch Innenminister Yerlikaya mit seinem Kampf gegen die organisierte Kriminalität.