Opposition fürchtet "Diktatur" in der Türkei
9. Januar 2017Kemal Kilicdaroglu nimmt kein Blatt vor den Mund. Für den Chef der größten türkischen Oppositionspartei CHP wäre die Einführung eines Präsidialsystems in der Türkei gleichbedeutend mit der Einführung einer "Diktatur".
Eines scheint klar: Die Umwandlung der Türkei von einer parlamentarischen Demokratie in ein präsidentielles System unter Recep Tayyip Erdogan würde den starken Mann an der Staatsspitze noch mächtiger werden lassen.
Seit dem Putschversuch im vergangenen Juli gilt in der Türkei der Ausnahmezustand, kann Präsident Erdogan per Dekret regieren. Derzeit muss das Parlament diese Dekrete im Nachhinein noch absegnen, im angestrebten Präsidialsystem würde diese Kontrolle durch das Parlament entfallen.
Hinzu kommt: Das Staatsoberhaupt wäre gleichzeitig auch der Regierungschef. In dieser Position wäre Erdogan für die Ernennung und Absetzung aller seiner Stellvertreter und Minister zuständig und würde nicht mehr vom Parlamentschef, sondern von seinen Vizepräsidenten vertreten werden. Die Anzahl seiner Vizepräsidenten könnte er selbst bestimmen.
Große Unterstützung durch AKP
Auch die formelle Unabhängigkeit des Präsidenten, bisher fester Bestandteil des politischen Systems des Landes, würde aufgehoben werden. Präsident Erdogan ist zwar formell nicht Mitglied der AKP, aus seiner Unterstützung für seine ehemalige Partei macht er allerdings keinen Hehl.
Die Zustimmung für die Reform ist innerhalb der AKP dementsprechend groß. Auch Mehmet Simsek schreckt die Machtkonzentration in den Händen einer Person überhaupt nicht. Im Gegenteil. Der AKP-Politiker, immerhin stellvertretender Ministerpräsident der Türkei, kann der Einführung eines präsidentiellen Systems nur Positives abgewinnen: "Zum einen würde die Exekutive gestärkt werden, da der Präsident das Land vollkommen unabhängig von der parlamentarischen Zersplitterung fünf Jahre lang regieren könnte, zum anderen könnte man die Zehn-Prozent-Hürde für den Einzug ins Parlament abschaffen und auf diese Weise eine faire Repräsentation aller Bevölkerungsgruppen erreichen."
Hürden für Reform sind hoch
Die Begeisterung in den Reihen der AKP wird für die Reform allerdings nicht ausreichen. Die Partei hat nicht genügend Sitze, um die Reform auf eigene Faust im Parlament durchzuboxen. Sowohl die pro-kurdische HDP als auch die kemalistische CHP teilen Simseks Optimismus nicht, sind strikt gegen die Einführung eines präsidentiellen Systems.
Und auch Türkei-Experte Christoph Ramm von der Universität Bern ist skeptisch: Für die Verabschiedung der Reform benötige die AKP "zumindest inoffiziell ein Bündnis mit der rechtsnationalistischen MHP. Beide Parteien stehen für einen isolationistischen, für einen rechtsnationalistischen Kurs. Hinter den Kulissen wird gerade viel verhandelt. Die Einführung der Todesstrafe ist eines der Themen, die in die Waagschale geworfen werden."
Die nötige Zwei-Drittel Mehrheit kann die AKP auch nicht mit dieser Konstellation erreichen. Allerdings könnte die AKP mit den Stimmen der MHP ein Referendum ansetzen und das Volk über die Reform abstimmen lassen.
Parlament stimmt für Debatte
In der Nacht zum Dienstag stimmte das Parlament dafür, über eine Debatte über die notwendige Verfassungsreform zuzulassen, wie die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu meldet. Demnach sprachen sich 338 von anwesenden 480 Abgeordneten dafür aus. Mindestens 330 Ja-Stimmen waren für die Eröffnung der Diskussion nötig.
Das Vorhaben der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP, die über 316 Sitze im Parlament verfügt, erhielt damit Unterstützung aus Reihen der Opposition. Im nächsten Schritt wird über jeden der 18 Artikel in der Reform einzeln beraten und abgestimmt.
Kemal Kilicdaroglu, der Chef der Oppositionspartei CHP, blickt den nächsten Wochen mit Grauen entgegen. Für ihn bedeutet allein das Vorbringen der Vorschläge nichts anderes als den Anfang vom Ende "der 140 Jahre alten parlamentarischen Tradition" in der Türkei.