Wie mit Schulbüchern Politik gemacht wird
18. Oktober 2017Marschierende Kinder und Schießübungen als Teil des Unterrichts: Was für viele Osteuropäer wie eine düstere Erinnerung an die kommunistischen Diktaturen vor 1989 klingt, könnte bald mitten in der EU zum Schulalltag gehören. In Ungarn forderte der Premier Viktor Orban die Ministerien für Verteidigung und Human-Ressourcen auf, bis Jahresende ein "Patriotisches und Heimatwehr-Erziehungsprogramm" auszuarbeiten. Es soll in den "Nationalen Grundlehrplan" der Schulen einfließen.
"Nationalistische und religiöse Indoktrination"
"Unsere Schulen werden politisch und administrativ komplett von der Regierung bestimmt, sie sind schon jetzt eher wie Militärkasernen", kommentiert es der regierungskritische ungarische Bildungsforscher Peter Rado. Seit 2011 habe die national-konservative Regierung in Budapest das ganze Schulwesen umgekrempelt und unter anderem den freien Markt für Lehrbücher abgeschafft. "Das ist besorgniserregend", sagt Rado. Lehrer dürfen pro Fach und Schuljahr nur zwei genehmigte Lehrbücher verwenden.
In Rumänien hat der Bildungsminister die Einführung von nur einem einzigen Lehrbuch pro Jahrgang und Fach für das ganze Land vorgeschlagen. Kritiker warnen, dass Einheitslehrbücher an die Zeit vor 1989 unter Diktator Ceausescu erinnern würden.
Generell seien Veränderungen von Schulbüchern und Lehrplänen dann problematisch, "wenn Schulunterricht klar darauf hin ausgerichtet ist, eine bestimmte Weltanschauung als allgemeingültig zu vermitteln", sagt Christiane Brandau vom Georg-Eckert-Institut für Internationale Schulbuchforschung in Braunschweig.
Aus der Sicht von Peter Rado gilt das für Ungarn: "Die nationalistische und religiöse Indoktrination geht auch weit über Lehrbücher hinaus", sagt er im DW-Gespräch. Der Forscher weist darauf hin, dass an ungarischen Schulen die religiöse Erziehung quasi alternativlos sei: "Theoretisch kann man das Fach Religion durch Ethik ersetzen, aber inhaltlich unterscheiden sie sich kaum."
Darwins Evolutionstheorie: "zu kompliziert"
Das bekannteste Beispiel in diesem Zusammenhang liefert die Türkei. Schon seit den 1980er Jahren kommt in türkischen Schulbüchern auch der Kreationismus vor. Nun soll die Evolutionstheorie von Charles Darwin an staatlichen Schulen nur noch in abgespeckter Form unterrichtet werden. "Zu kompliziert", "zu kontrovers" sei ein Großteil des Stoffs für den Schulunterricht, lautet die offizielle Erklärung aus dem Bildungsministerium in Ankara. Anstelle der Evolutionstheorie soll ein neues Fach namens "Lebewesen und Umwelt" eingeführt werden.
Hatice Karahan gehört zu den Chefberaterinnen des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Im DW-Gespräch verteidigt sie das türkische Curriculum. Die Evolutionstheorie aus dem Stundenplan zu entfernen, sehe sie nicht im Widerspruch zur Fortschrittlichkeit türkischer Schulen. "Länder haben unterschiedliche Lehrpläne und bei uns fokussieren sich viele Schulen auf technische Fächer", erklärt Karahan. Aus Akademiker-Kreisen und von der Opposition gibt es dagegen scharfe Kritik. "Eine erwiesene Theorie aus den Lehrplänen zu entfernen, heißt, Wissen und Wissenschaft zu missachten. Die AKP-Regierung ersetzt sie mit einem Programm, das Scharia-Prinzipien enthält", sagt Baris Yarkadas, Istanbuler Abgeordneter der größten Oppositionspartei CHP.
Kritiker befürchten, es sei ein Versuch der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP, die säkularen Prinzipien der Türkei aufzuweichen. Sie weisen auch darauf hin, dass in den neuen Stundenplänen weniger als bisher über den laizistisch geprägten Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk gelehrt werden soll.
Politiker in Geschichtsbüchern
Im Umgang und der Deutung historischer Persönlichkeiten ist Russland ein Paradebeispiel. Patriotische Erziehung gehört dort längst zur Bildungspolitik. So wurde zum Beispiel ein Lehrbuch des Historikers Andrej Suslow über die Repressionen Stalins als "gesundheitsschädlich für Kinder" eingestuft. Seine Diktatur wird in russischen Schulen als notwendig für die damaligen Verhältnisse erklärt und damit legitimiert. Denn Straflager und Ermordungen von Regime-Kritikern passen nicht zum Bild des Helden. Suslow kämpft vor Gericht, damit sein Werk von der schwarzen Liste gestrichen wird.
Eine alte Methode mit frischem Anstrich ist, nicht nur vergangene Nationalhelden zu glorifizieren, sondern auch lebenden Politikern Platz in den Geschichtsbüchern zu geben. Der ungarische Premier Viktor Orban wird beispielsweise in einem neuen Geschichtsbuch mehrfach als unparteiischer Landesvater zitiert. Die Schüler lernen aus einer abgedruckten Rede von ihm zur Flüchtlingskrise. Demnach sei Ungarn ein kulturell homogenes Land und im Unterschied zu ehemaligen Kolonialmächten wolle es diese Homogenität nicht opfern.
Gute Migranten, schlechte Migranten
In einem aktuellen polnischen Lehrbuch im Fach Bürgerkunde lesen die Schüler der 7. Klasse: Flüchtlinge hätten je nach ihrer Herkunft "positive oder negative Auswirkungen". "Migranten aus der Ukraine würden Lücken auf dem polnischen Arbeitsmarkt füllen, während Menschen aus anderen Kulturen und Religionen zu gesellschaftlichen Spannungen führen würden", zitiert der Warschauer Geschichtslehrer Jacek Staniszewski aus dem Buch im DW-Gespräch. "Ich weiß nicht, ob ich über so etwas weinen oder lachen soll", sagt der Pädagoge, der sich in der pan-europäischen Geschichtslehrer-Organisation Euroclio engagiert. Staniszewski sieht die Rückkehr zu der achtjährigen Grundschule, die die national-konservative PiS-Regierung wieder einführte, kritisch: "Das ist genauso wie früher im Kommunismus."
"Meine Schüler verdienen mehr als eine Perspektive"
In Polen gewinnen derzeit humanistische Fächer wie Geschichte an Bedeutung. Hinter der Aufwertung auf dem Lehrplan könnte mehr stecken: "Im neuen polnischen Lehrplan geht es nach dem Prinzip 'Wir gegen die anderen' zu, gerade im Fach Geschichte", meint Staniszewski. "Die Regierung will ein Narrativ, das unsere Identität in Abgrenzung zu anderen Nationen - insbesondere zu Deutschen und Russen - definiert."
Auch der Fokus auf die nationale Geschichte wirft Fragen auf: Seit diesem Schuljahr beginnt dort der Geschichtsunterricht nicht mehr in der Antike, sondern erst im 10. Jahrhundert, als der Fürst Mieszko I. den Staat Polen gründete und ihn zum Christentum führte. "Danach lernen Schüler über ein ganzes Jahr eine lange Galerie polnischer Nationalhelden kennen", erklärt Jacek Staniszewski.
Seinen Unterricht will der Geschichtslehrer trotz der Änderungen im Lehrplan nicht ändern. "Meine Schüler verdienen es, mehr als eine Perspektive kennenzulernen", sagt er. Anders als in Ungarn haben polnische Lehrer eine Vielzahl von Lehrwerken zur Auswahl - und sind nicht verpflichtet, ein bestimmtes Buch zu nutzen. Staniszewski bleibt zuversichtlich: "Es ist naiv von der Regierung, zu versuchen, die Leute zu indoktrinieren. Denn das haben früher die Kommunisten nicht einmal in einem halben Jahrhundert geschafft."