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Türkei-Wahl: Wirtschaft, die gemeinsame Sorge

Burak Ünveren | Gülsen Solaker | Felat Bozarslan | Kivanc El
11. Mai 2023

Die wirtschaftliche Lage belastet in der Türkei so gut wie jeden schwer. Das könnte bei den Wahlen am 14. Mai entscheidend sein. Ein Stimmungsbericht aus drei türkischen Städten.

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Eminonu-Gewürzbasar mit vielen Besuchern
Die Auslagen sind voll im historischen Eminonu-Gewürzbasar in Istanbul. Aber wer kann sich den Einkauf dort noch leisten? Bild: Tolga Ildun/Zuma/picture alliance

Die Türkei hat über 20 Jahre Erdogan hinter sich. Ob noch weitere fünf hinzukommen, wird sich beginnend mit der Wahl am 14. Mai entscheiden. An diesem Tag werden die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in der Türkei abgehalten. Umfragen zufolge hat die Opposition nach Jahren zum ersten Mal die realistische Chance, gegen den amtierenden Präsidenten einen Sieg zu erzielen.

Die anhaltende Wirtschaftskrise könnte zu einer möglichen Niederlage Erdogans einen erheblichen Beitrag leisten. Die Wirtschaft befindet sich seit Jahren im Absturz und es geht den Türken nicht mehr so gut wie früher. Besonders die extrem hohe Inflation trifft Menschen massenhaft, weil Produkte des täglichen Bedarfs immer unbezahlbarer werden. Während die Jahresinflation laut offiziellen Angaben bei 43 Prozent liegt, liegt sie laut den Berechnungen der Unabhängigen Forschungsgruppe Inflation (Inflation Research Group - ENAG) bei circa 105 Prozent. Ein Hinweis darauf, dass die türkischen Behörden die Zahlen beschönigen. Auch die türkische Lira verlor in den letzten Jahren gegenüber dem Euro und dem US-Dollar zunehmend an Wert: Musste man für einen Euro im Jahr 2014 circa 2,90 Lira bezahlen, so sind es heute circa 21,50 Lira.

Erdogan trotz allem?

Die Auswirkungen der Wirtschaftskrise spüren die Menschen überall in der Türkei - auch in den konservativen Städten des Landes. Viele bleiben aber trotzdem ihrem Staatspräsidenten treu: Ein Taxifahrer aus der mittelanatolischen Stadt Konya sagte im Gespräch mit der DW, er werde auch in dieser Wahl Erdogan wählen, auch wenn es ihm wirtschaftlich nicht gut gehe. Viele wirtschaftliche Projekte, unter anderem das neue türkische E-Auto "TOGG" fände er gut. Er wirft der Opposition vor, sich nicht hinter der Regierung zu stellen. "Wenn die Opposition diese Projekte nicht nur kritisieren, sondern ein bisschen unterstützen würde, würden sie vielleicht auch mehr Stimmen bekommen", so der Taxifahrer.

Straßenszene in Konya
Konya gilt als AKP-HochburgBild: Serhat Cetinkaya/AA/picture alliance

Das größte Problem für die Menschen ist auch in Konya die wirtschaftliche Lage. In einer Januar-Umfrage der lokalen Denkfabrik DOUSAM betrachteten über 73 Prozent der dort Befragten die Entwicklung der Wirtschaft in den vergangenen Jahren als negativ - optimistisch sind nur etwa 16 Prozent. Viele Bewohner Konyas beklagen sich beispielsweise darüber, wie schwer es ist, eine bezahlbare Wohnung zu finden. Auch die Beschwerde, dass der Stadt eine U-Bahn fehle, hört man von vielen.  

Besonders für junge Menschen spielt die Wirtschaft eine entscheidende Rolle: Aus der DOUSAM-Umfrage geht hervor, dass für Menschen zwischen 18 und 41 Jahren die größten Probleme die Inflation und die daraus resultierenden hohen Lebenshaltungskosten sind. Im Gespräch mit der DW erzählt ein junger Mann aus Konya, dass er zum Studieren in die Stadt kam. Der Mann, der anonym bleiben will, erzählt, dass seine finanziellen Probleme in der letzten Zeit immer weiter zugenommen haben - ein Faktor, der vermutlich bei seiner Wahlentscheidung eine Rolle spielen wird.

Die Stadt gilt als eine Hochburg der Regierungspartei AKP. Bei den Parlamentswahlen 2018 erzielte Erdogans Partei dort knapp 60 Prozent der Stimmen, während er als Präsidentschaftskandidat persönlich 74,2 Prozent aller Stimmen bekam.

Keine Investitionen in Trabzon

Auch in der konservativ-nationalistisch orientierten Stadt Trabzon im Norden der Türkei scheint die spürbare Wirtschaftskrise nicht das Ende der Erdogan-Ära zu bedeuten. Viele glauben in der Stadt an der Schwarzmeerküste, dass Erdogan derjenige ist, der die Wirtschaft tatsächlich ankurbeln kann.

Erkut Celebi, Präsident der örtlichen Industrie- und Handelskammer, beobachtet die Wahlversprechen der beiden Seiten intensiv. "Es gibt einige, die wir glauben, und es gibt einige, die wir nicht glaubwürdig finden", so Celebi. Er beklagt sich darüber, dass in Trabzon nicht so viel investiert wird wie in den Nachbarstädten - etwa wie in Rize, der Heimatstadt Erdogans. "Wir sind eine der Städte an der Schwarzmeerküste, in die am wenigsten investiert wird. Wir haben eine starke Diaspora und viele Einheimische sind in der Bürokratie tätig. Aber die, die das Geld haben, leben ja nicht hier", klagt Celebi.

Ein rotes E-Auto TOGG, dahinter an einer Hauswand das Porträt Erdogans
Das TOGG wird im Trabzoner Stadtzentrum ausgestellt – viele Trabzoner sind zufrieden mit der Wirtschaftspolitik der Erdogan-RegierungBild: Kivanc El/DW

Kaum bezahlbare Wohnungen in der Türkei 

Alleine die arabischen Touristen sorgen für die Aufrechterhaltung der Wirtschaft in Trabzon, erklärt Celebi. "Trabzon geht es relativ gut dank dem Geld, das die arabischen Touristen bringen", sagt er.

Die Trabzoner Lokaljournalistin Elif Cavus denkt, dass es wirtschaftlich nicht nachhaltig ist, sich auf diese Touristen zu verlassen: "Die Stadt ist ausschließlich auf die arabischen Touristen angewiesen. Was passieren würde, wenn sie nicht mehr kommen, ist unklar. Man müsste den Tourismus diversifizieren", so Cavus. Laut dem Türkischen Statistikamt (TÜIK) kamen 2022 etwa 600.000 Touristen nach Trabzon, überwiegend aus Katar und den Vereinigten Arabischen Emiraten. Das offizielle Ziel ist, in 2023 eine Millionen Touristen zu empfangen.

Für viele Trabzoner ist die massiv gesunkene Kaufkraft eines der größten Probleme. Während viele Einwohner damit zufrieden sind, dass arabische Touristen zu ihnen kommen, beschweren andere sich darüber, dass dies zu einer Schwächung ihrer eigenen Kaufkraft führt. "Die Araber kaufen viel zu viele Häuser. Die Preise gehen deswegen hoch", erzählt der Abfallsammler Kadir Yilmaz. Auch der Landwirt und AKP-Wähler Vural Öksüz findet das problematisch: "Es ist falsch, dass die Araber Häuser kaufen dürfen. Das schadet wiederum unserer Kaufkraft", so Öksüz.

Hoffnung auf eine türkische Zukunft ohne Vetternwirtschaft

Während sich viele konservative Städte auf den langjährigen Staatspräsidenten verlassen, glauben viele in anderen Orten der Türkei, dass der Oppositionskandidat Kemal Kilicdaroglu vieles besser machen kann.

Didem Kalkan kommt ursprünglich aus dem ostanatolischen Tunceli und studiert in einer anderen Stadt. Sie wird in der Wahl Kilicdaroglu unterstützen. Ihrer Meinung nach werde die Türkei seit 20 Jahren sehr schlecht regiert. "Ich bin momentan Studentin. Ich bin besorgt darüber, dass ich in Zukunft keinen Job finden kann", so Kalkan. Sie weist auf ein weiteres Problem hin, nämlich Vetternwirtschaft: "Jeder erwartet eine Extrawurst. Ich bin davon überzeugt, dass unter Kilicdaroglu jeder das sein wird, was er verdient zu sein. Ich habe deswegen Hoffnung", so Kalkan. 

Eine junge Frau hinter einem gemüsestand
Yagmur Keskin wird am 14. Mai zum zweiten Mal wählenBild: Felat Bozarslan/DW

Hauptwunsch der Türken vor der Wahl: eine bessere Wirtschaft 

Statistisch gesehen wählte die ostanatolische Stadt Tunceli in der 100-jährigen Geschichte der Republik nie rechte Parteien. Der Erdogan-Herausforderer Kemal Kilicdaroglu kommt ursprünglich aus der alevitisch-geprägten Stadt, worauf viele Menschen in der Stadt stolz sind. Während viele sich freuen, dass ein Alevite aus Tunceli Präsident werden könnte, wünschen sie sich hauptsächlich eine bessere Wirtschaft. Mit der Wahl von Kilicdaroglu werde der Wandel beginnen, glaubt Yagmur Keskin. "Ich wünsche mir nichts anderes als dass der Sieger die Wirtschaft verbessert", so Keskin im Gespräch mit der DW. Auf der befahrensten Straße Tuncelis verkauft sie die Kräuter, die sie auf den Bergen selbst sammelt. Die junge Frau wird dieses Jahr zum zweiten Mal wählen. "Ich wünsche mir auch, dass viele Jobmöglichkeiten für die Jugendlichen geschaffen werden. Wenn wir uns so viel Mühe geben, sollten wir auch den Lohn ernten", so Keskin. 

Ein Kilicdaroglu-Wahlkampfposter über einer Straße: "Ich bin Kemal, ich komme."
Tunceli ist stolz auf ihren einheimischen Präsidentschaftskandidaten KilicdarogluBild: Felat Bozarslan/DW

Das größte Problem für die jungen Menschen aus Tunceli ist die Arbeitslosigkeit. Die Jobangebote für junge Menschen in der Stadt sind sehr begrenzt. Viele verlassen daher die Stadt. Die Wirtschaftskrise und die hohen Lebenshaltungskosten sind auch hier die am meisten diskutierten Themen. 

Dass eine mögliche Kilicdaroglu-Ära der Türkei mehr Gerechtigkeit bringt, davon sind viele Menschen in Tunceli überzeugt. Auch Cafer Toprak glaubt das. Er ging in die gleiche Schule wie Kilicdaroglu und kennt ihn. Er erinnert sich an die Zeiten in der Grundschule mit den folgenden Worten: "Kemal brachte damals immer Brot in die Schule. Er aß aber sein eigenes Brot nicht alleine, sondern teilte es immer mit den anderen."

Auch Kilicdaroglu ist sich seiner potentiellen Rolle der Wirtschaftslage für die Wahl sehr bewusst. Auf Twitter teilte er ein vier Sekunden langes Video am Mittwochabend, in dem er sagte: "Wenn du heute ärmer bist als gestern, ist der einzige Grund Erdogan. Schönen Abend noch."

DW Mitarbeiter l Burak Ünveren, DW-Journalist
Burak Ünveren Redakteur. Themenschwerpunkte: Türkische Außenpolitik, Deutsch-Türkische Beziehungen.