Erdogan will "chinesisches Modell"
8. Dezember 2021Seit Jahren wird die türkische Wirtschaft von einer Turbo-Inflation gebeutelt. Der enorme Preisanstieg setzt der Bevölkerung zu. Energie, Wohnraum oder Grundnahrungsmittel sind nur noch vollkommen überteuert zu erhalten. Besonders ärgerlich ist für viele Türken, dass Präsident Recep Tayyip Erdogan und seine Regierung in Ankara nichts unternehmen, diese Entwicklung zu stoppen - ganz im Gegenteil.
Das zeigten auch die vergangenen Wochen: Auf Erdogans Anordnung hat die türkische Notenbank Mitte November beschlossen, den Zinssatz von 16 auf 15 Prozent zu senken. Den Leitzins im Falle einer Inflation zu senken, ist jedoch äußerst unüblich. Normalerweise bekämpfen Notenbanken eine zu hohe Inflation mit einer Anhebung des Zinsniveaus.
Nicht unerwartet folgte dann die Quittung: Die türkische Lira stürzte weiter ab. Für einen US-Dollar müssen inzwischen fast 14 Lira gezahlten werden, rund 50 Prozent mehr als vor einem Monat. Auch die Inflation hat stark angezogen und liegt inzwischen bei mehr als 21 Prozent.
Wer annahm, Erdogan würde nach diesem Fiasko umdenken, wurde enttäuscht. Stattdessen mahnt er zur Geduld und verspricht, diese Geldpolitik werde langfristig positive Folgen haben. Investitionen und Produktion würden bald angekurbelt, auch die Exporte würden zulegen. Dieser Ansatz in der Wirtschafts- und Geldpolitik würde dem "chinesischen Modell" nahekommen, sagte der Präsident laut türkischen Medienberichten vor dem Parteivorstand der Regierungspartei AKP.
In der Tat macht eine schwache Währung die heimischen Exporte günstiger und damit attraktiver. Auch China wurde in der Vergangenheit oft vorgeworfen, seinen Exporten durch eine künstlich unterbewerte Währung einen Wettbewerbsvorteil zu verschaffen. Allerdings ist der Yuan nicht komplett frei handelbar, sein Kurs wird in gewissen Grenzen von der chinesischen Notenbank festgelegt.
Erdogan sieht weitere Gemeinsamkeiten zwischen der Türkei und China. Beide Volkswirtschaften konnten selbst im Corona-Krisenjahr 2020 noch wachsen. Auch sind beide Länder beliebt bei ausländischen Investoren, die von den niedrigen Lohn- und Produktionskosten profitieren. Trotzdem halten viele Experten und Oppositionspolitiker Erdogans China-Vergleich für abwegig.
Hinkender Vergleich mit China
Die Türkei könne sich nicht an dem chinesischen Modell orientieren, weil das Land nicht ansatzweise über eine ähnlich große Wirtschaft und Bevölkerung verfüge, sagt etwa Arda Tunca, Vorstand des Finanzdienstleisters Eko Faktory. "Es gibt dort eine vollkommen andere Wirtschaftsdynamik", so Tunca. "China hat die größte Bevölkerung der Welt und zieht die ganze Welt mit seiner riesigen Produktionskapazität an."
Und anders als die Türkei habe China nicht die Ausbildung qualifizierter Fachkräfte vernachlässigt. Der Ökonom bezweifelt, dass die Türkei über ausreichend Fachkräfte verfügt, um die Produktion innovativer zu machen. Stattdessen würde die türkische Regierung auf billige Arbeitskräfte aus Syrien und Afghanistan setzen. "Damit sich die Türkei industrialisieren kann, sollte sie eine Wirtschaftspolitik verfolgen, die langfristig die Produktivität steigert, anstatt mit Wechselkursen und Zinssätzen herumzuspielen", mahnt Tunca.
Murat Birdal, Wirtschaftswissenschaftler an der Universität Istanbul, ergänzt, dass das chinesische Modell für die Türkei alles andere als erstrebenswert sei. Es sei ein Modell, das nur von autoritären Regimen angewandt werden könne. Birdal betont außerdem, dass die chinesische Volkswirtschaft den Reichtum nicht an alle Bevölkerungsschichten verteile.
Schadet Erdogan seinen eigenen Wählern?
Der türkische Präsident Erdogan begründete seinen Erfolg als Politiker einst auch darauf, dass er die gesamte Bevölkerung an dem Wirtschaftswachstum der 2000er Jahre teilhaben ließ. Auch die frommen Bevölkerungsteile in den wirtschaftlich schwachen anatolischen Provinzen bekamen etwas vom Kuchen ab.
Nun aber sind es vor allem die einkommensschwachen Türken, darunter auch viele Stammwähler Erdogans, die unter der hohen Inflation leiden. Ein Trend, den der Präsident mit seinem Druck auf die Zentralbank noch verstärkt hat.