"Es geht um Einschüchterung"
19. Juni 2018Die Tageszeitung Cumhuriyet ist eines der letzten Medienorgane der Türkei, das noch kritisch berichtet. Nun drohen der Wirtschaftsjournalistin Çiğdem Toker (Artikelbild oben) für zwei ihrer Artikel Schadensersatzzahlungen in Höhe von drei Millionen Türkische Lira (umgerechnet 548.446 Euro). Der Grund: In den vergangenen Wochen hatte Toker Recherchen angestellt zu Firmen, die eine Ausschreibung gewonnen hatten, um Tomaten aus der Türkei nach Russland zu exportieren. Sie wollte wissen, in welchem Verhältnis sie zur Regierung stehen. Wegen ihrer Berichtersattung verklagten die Firmen Agrobay und Şenbay, die beide zur Bayburt Gruppe gehören, die Journalistin. Die Kläger wollen eine Entschädigung von 1,5 Millionen TL (umgerchnet 274.223 Euro). Als Begründung geben sie an, dass ihre geschäftlichen Beziehungen wegen der Berichterstattung Schaden erlitten haben. An diesem Dienstag beginnt der Prozess.
DW: In Ihren Artikeln, die nun zu dem Prozess geführt haben, stellen Sie Nachforschungen an, ob die Auftragsvergabe objektiv verlaufen ist. Daraufhin klagten die Firmen, die die Auftragsgabe gewonnen haben. Wie fühlt sich das für Sie an?
Çiğdem Toker: Es hieß, ich hätte in meinem Artikel angedeutet, dass die Qualität der Tomaten der entsprechenden Firma nicht ausreichend gut sei! Das steht auch so in dem Prozessantrag. Darüber habe ich zum Beispiel sehr gelacht. Außerdem hätte ich in meinem Artikel versucht, den Verkauf der Tomaten dieser Firma zu beeinflussen. Als ich mich mit diesem Prozess konfrontiert sah, habe ich aber vor allem gemerkt, dass das ausschlaggebende war, dass bislang noch kein Artikel erschienen war, der das alles hinterfragte. Der Export von Tomaten nach Russland erfolgt größtenteils aus Antalya, wo es viele Firmen gibt. Weshalb findet sich dann keine einzige Firma aus Antalya unter den exportierenden Firmen? Dass diese grundlegende journalistische Frage mit so einer hohen Schadensersatzsumme belastet wird, zeigt, dass nicht einmal die geringste Berichterstattung geduldet wird.
DW: Sie sagen, dass die Bayburt-Gruppe, die Sie angeklagt hat, in den vergangenen Jahren viele bauliche Infrastrukturaufträge der Regierung übernommen habe und diese Projekte in einem intransparenten Verfahren nur an einige bestimmte Firmen ausgeschrieben wurden. Wie häufig erleben wir in der Türkei heute noch transparente Ausschreibungen?
Toker: Es ist nicht so, dass es das gar nicht mehr gibt. Es gibt auch öffentliche Ausschreibungen, aber die findet man häufiger bei Projekten im Bereich Transport. 2013 fing das alles so langsam an, 2015 wurde es dann mit einem Mal mehr und 2017 schließlich nahm es große Dimensionen an. Es geht um 38 Milliarden TL. Zu dieser Summe tagte auch die Kommission des Parlaments. Normalerweise müssten Ausschreibungen, vor allem solche von so einer Größenordnung, transparent sein. Wir stellen hier mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln Nachforschungen an. Und wir sehen, dass das einige der eingeladenen Firmen stört. Normalerweise wird so etwas in Ausnahmesituationen gemacht. Wir aber sehen, dass es immer mehr zur Norm wird.
DW: Gibt es hier keinen Kontrollmechanismus, der bei den Ausschreibungen greift?
Toker: Dass es keinen Kontrollmechanismus gibt, sehen wir an den Berichten des Rechnungshofs. Eigentlich sollte diese Institution im Namen des Parlaments Kontrollen durchführen, aber die Berichte kommen meist nicht im Parlament an oder sind zensiert. Das heißt es gibt ein großes Problem bei der Kontrolle öffentlicher Geldquellen. Wir können also sagen, dass die Machthaber ein Problem damit haben, kontrolliert zu werden.
DW: Mit welchen Hindernissen wird ein Wirtschaftsjournalist, der etwa über öffentliche Ausschreibungen berichtet, heute in der Türkei konfrontiert?
Toker: Wir haben es hier mit einem Ausschreibungsgesetz zu tun, das immer wieder verändert wurde, mit einer nach innen gekehrten Bürokratie, einer intransparenten Organisation. Die Journalisten, die in diesem Bereich arbeiten wollen, haben es wirklich nicht leicht. Es gibt vieles, das verdeckt ist. Berichtet man kritisch über Finanzierung, dann stören sich die Medienbesitzer daran. Man will immer nur die rosarote Berichterstattung. Und weil genau das gewollt ist, entsteht bei vielen Kollegen eine Selbstzensur. Es werden also keine Fragen mehr gestellt. Früher gab es bei den Zeitungen mindestens jeweils zwei Wirtschaftsjournalisten. Während sämtlicher Regierungen gab es immer wieder Korruption und Regelwidrigkeiten, aber die Investitionsfirmen wussten, dass darüber berichtet wird und bemühten sich deshalb etwas mehr. Es ist offensichtlich, dass man mir den Prozess macht, um ein Exempel zu statuieren. Die Schadensersatzsumme ist völlig irrational. Jeder weiß, dass ein Journalist niemals soviel Geld hat. Es geht um Einschüchterung. Sie sagen Dir: "Schreib so etwas nicht." Aber ich bin niemand, der sich vor so etwas fürchtet. Aber eigentlich geht es darum, den jungen Journalisten, die nach uns kommen, Angst zu machen.
Das Interview führte Burcu Karakaş.