Türkischer Reformwille lässt nach
8. März 2006Erst dieser Tage haben die 25 EU-Mitgliedländer in Brüssel beschlossen, das erste Kapitel der Verhandlungen über den Beitritt der Türkei zu eröffnen. Am Mittwoch (8.3) wird der türkische Außenminister Abdullah Gül in Wien mit Vertretern der EU zusammen treffen. Der bürokratische Prozess läuft gut, doch das politische Klima sieht anders aus: "Auf beiden Seiten wachsen die Zweifel, dass es gelingt, die Türkei in die EU zu integrieren", sagt Türkei-Experte Heinz Kramer von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin.
Reformwille erlahmt
"Der Reformelan, an den wir zwischen 2002 und 2005 so gewöhnt waren, ist erlahmt", beobachtet er. Der Grund: Auch die Türkei erwarte mehr von der EU - besonders in der Zypernfrage. Auch Udo Steinbach, Leiter des Deutschen Orient-Institutes in Hamburg, meint, dass der Modernisierungsprozess in der Türkei stagniert. Dieser sei zum Teil von innenpolitischen Themen überlagert, denn 2007 ist Wahljahr in der Türkei. Für Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan ein schwieriges Umfeld, denn die Mehrheit der strenggläubigen Anhänger seiner islamisch orientierten Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) sind Hardliner. Besonders die Gratwanderung in der Innenpolitik sei daher ein Grund dafür, dass "man sich in der Türkei in Kontroversen verzettelt, von denen man dachte, dass sie schon längst überstanden seien", sagt Steinbach.
Außenpolitik: Alternative zur EU?
Erdogans Parteifreunden wird somit auch die Einladung an die militante Palästinenserorganisation Hamas gefallen haben, sind die AKP-Anhänger in der Mehrheit doch pro-palästinensisch und antiisraelisch. "Eine solche Einladung und eine solche Haltung führt aber zu Irritationen mit der EU", sagt Kramer. Denn damit, so die gängige Meinung unter EU-Diplomaten, habe sich die Türkei gegen die Linie der EU gestellt, nach der erst dann Kontakt zur Hamas aufgenommen werden sollte, wenn sie dem Terror abschwört und Israel anerkennt. Die Türkei sieht das aber anders und unterhält bereits seit einigen Jahren gute Beziehungen zu den Palästinensern - auch schon vor dem Hamas-Sieg, betont Steinbach.
Mit der Einladung an die Hamas habe Erdogan jetzt die von ihm in jüngster Zeit häufig beschworene Rolle der Türkei als Regionalmacht und die Einbindung in den Nahen Osten unterstreichen wollen. Diese zweite Richtung in der Außenpolitik der AKP glaubt auch Heinz Kramer zu erkennen. "Unklar ist aber noch, ob die Türkei dies als Ergänzung oder als Alternative zur EU-Öffnung ansieht", sagt er.
Kein Mittler zwischen den Kulturen
Währenddessen wollen die EU-Vertreter, Finnlands und Österreichs Außenminister sowie der EU-Außenbeauftragte Javier Solana und die EU-Kommissarin Benita Ferrero-Waldner mit dem türkischen Außenminister Gül aus Anlass des Karikaturenstreits über eine mögliche Vermittlerrolle der Türkei zwischen dem Westen und der islamischen Welt reden. Zwar ist es auch in der Türkei zu Demonstrationen gekommen, diese blieben aber friedlich. "Das Verhalten der Türkei in diesem Streit zeigt, dass die Türkei kein typisch islamisches Land mehr ist", sagt Kramer. "Genau das macht sie aber als Vermittler nicht glaubwürdig."
Türkischer Nationalismus
"Die Türkei muss sich endlich als multiethnische Nation akzeptieren", fordert Kramer. Die Realität scheint dieser Forderung aber bisher zu widersprechen: "Der türkische Nationalismus ist wieder entflammt", beobachtet Steinbach. Dies zeige sich besonders in der türkischen Literatur aber auch an der Auseinandersetzung um den türkischen Actionfilm "Tal der Wölfe", der im Westen als antisemitisch, antichristlich und antikurdisch gilt. "In der türkischen Minderheitenpolitik gibt es noch jede Menge zu tun", sagt Kramer. Auseinandersetzungen wie diese werden aber nicht dazu führen, dass die EU-Verhandlungen abgebrochen werden, ist Steinbach überzeugt.
Eskalation über Zypernfrage
Anders sehe dies im Zypern-Konflikt aus: "In der zweiten Jahreshälfte 2006 wird es zum großen Zypern-Streit kommen, bei dem die zyprischen Griechen auch den Abbruch der Beitrittsverhandlungen erlangen können", sagt Kramer. Die Türkei wirft der EU einen Doppelstandard vor. Dass der griechische Teil der Insel, der sich 2004 gegen einen UN-Einigungsplan aussprach, trotzdem in die EU aufgenommen wurde, ist für viele Türken immer noch unverständlich. Ein weiterer Vorschlag für den Einigungsprozess des türkischen Außenministers Gül Ende Januar wurde abermals von der griechischen Seite abgelehnt. Ankara hingegen weigert sich bisher, die türkischen Grenzen für zyprische Schiffe und Flugezuge zu öffnen.
Zuletzt hat sich die EU zwar bemüht, den Streit zu schlichten und mit zweijähriger Verspätung eine Finanzhilfe von 139 Millionen Euro zur Verbesserung der Lebenslage der türkischen Zyprioten gezahlt, an der ökonomischen Isolation Nordzyperns ändere das aber nichts, sagt Kramer. Eskaliert der Streit, könnten die Zypern-Griechen sich gegen weitere Verhandlungen aussprechen und den türkischen EU-Beitritt verhindern. Damit es dazu nicht kommt, fordert auch Steinbach eine größere Unterstützung für den türkischen Teil Zyperns. Und weiter: "Die EU darf sich ihre Linie in diesem Streitfall nicht von einem kleinen anti-türkischen Block diktieren lassen."