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KonflikteUkraine

Aktuell: "Der Feind macht keine Geschenke"

10. November 2022

Der ukrainische Präsident Selenskyj reagiert zurückhaltend auf die russische Ankündigung eines Truppenrückzugs aus der Stadt Cherson. Kiew bezeichnet ein Gesprächsangebot Moskaus als "neue Nebelkerze". Der Überblick.

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Ukraine-Krieg - Cherson
Ein ukrainischer Soldat begutachtet einen ehemaligen russischen Schützengraben in der Oblast ChersonBild: Daniel Ceng Shou-Yi/ZUMA/dpa/picture alliance

 

Das Wichtigste in Kürze:

  • Selenskyj reagiert zurückhaltend auf Russen-Abzug
  • Ukraine lehnt russisches Gesprächsangebot ab
  • USA sprechen von mehr als 100.000 Opfern auf jeder Seite 
  • Start der EU-Ausbildungsmission rückt näher
  • Putin reist nicht zum G20-Gipfel nach Indonesien

 

Nach der Ankündigung Russlands, sich aus der südukrainischen Großstadt Cherson und vom gesamten rechten Dnipro-Ufer zurückzuziehen, herrsche zwar "viel Freude", sagte der ukrainische Staatschef Wolodymyr Selenskyj in einer neuen Videoansprache. "Aber unsere Emotionen müssen zurückgehalten werden - gerade während des Krieges."

Selenskyj verwies darauf, dass der Rückzug der russischen Besatzer in erster Linie den Erfolgen der ukrainischen Streitkräfte zu verdanken sei. "Der Feind macht uns keine Geschenke, macht keine Gesten des guten Willens." Und die Ukraine werde weiter kämpfen.

"Ich werde den Feind definitiv nicht mit allen Details unserer Operationen füttern", führte Selenskyj weiter aus. "Ob im Süden, ob im Osten oder sonst wo - unsere Ergebnisse wird jeder sehen, selbstverständlich." Das ukrainische Militär werde sich weiter "sehr vorsichtig, ohne Emotionen, ohne unnötiges Risiko" bewegen. Und dies mit möglichst wenigen Verlusten. "So werden wir die Befreiung von Cherson, Kachowka, Donezk und unseren anderen Städten sichern."

Selenskyj warnte die Entscheider in Moskau davor, den Befehl zum Sprengen des Kachowka-Staudamms oberhalb von Cherson oder zur Beschädigung des Atomkraftwerk Saporischschja zu geben. "Dies würde bedeuten, dass sie der gesamten Welt den Krieg erklären", betonte der Präsident.

NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg hat sich zurückhaltend zu dem von Russland angekündigten Abzug aus Cherson geäußert. Man müsse jetzt sehen, wie sich die Lage dort in den nächsten Tagen entwickele, sagte Stoltenberg am Rande von Gesprächen mit der italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni in Rom. Klar sei aber, dass Russland schwer unter Druck stehe.

London: Russen verminen Gelände und zerstören Brücken

Um die Rückeroberung der von Moskau aufgegebenen Stadt Cherson für die Ukraine zu erschweren, sollen russische Truppen nach Erkenntnissen britischer Geheimdienste Brücken zerstört und mutmaßlich auch Minen gelegt haben. Es sei zu erwarten, dass der angekündigte Rückzug sich über mehrere Tage hinziehen und von Artilleriefeuer zum Schutz der abziehenden Einheiten begleitet werde, hieß es im täglichen Kurzbericht des britischen Verteidigungsministeriums auf Twitter. Insbesondere bei der Überquerung des Flusses Dnipro seien die russischen Einheiten angesichts begrenzter Möglichkeiten verletzlich.

Russische Einheiten haben die Stadt Kriwyj Rih angegriffen. Nach Darstellung der ukrainischen Militärverwaltung kamen dabei zahlreiche Kassettenbomben mit Streumunition aus russischen Raketenwerfern zum Einsatz. Die Bevölkerung wurde zu besonderer Vorsicht aufgerufen, um nicht die kleinen, zylinderförmigen Sprengsätze auszulösen.

Weitere militärische Erfolge der ukrainischen Einheiten

Weiter südlich rückten ukrainische Soldaten auf die Stadt Cherson vor. Ukrainische Medien berichteten von der "Befreiung" der Ortschaften Prawdino und Kalinowskoje nach schweren Kämpfen der vergangenen Tage. Dem Einmarsch der Ukrainer sei aber der Abzug der Russen aus den beiden Orten vorausgegangen, berichtete die "Ukrajinska Prawda".

Ukrainische Streitkräfte eroberten nach eigenen Angaben auch die Stadt Snihuriwka in der südlichen Region Mykolajiw zurück. In einem Video in den sozialen Medien ist zu sehen, wie ein Soldat inmitten einer schwerbewaffneten Gruppe steht, auf einem Infanteriefahrzeug ein ukrainische Flagge hochgehalten wird und Umstehende jubeln. Eine Stellungnahme des ukrainischen Verteidigungsministeriums liegt bislang nicht vor. Der Verkehrsknotenpunkt Snihuriwka - mit vor dem Krieg 12.000 Einwohnern - war im März von der russischen Armee besetzt worden.

Ukraine-Krieg - AKW Saporischschja
Das Atomkraftwerk Saporischschja im Süden der Ukraine - fotografiert aus großer EntfernungBild: Leo Correa/AP/dpa/picture alliance

Von russischer Seite wurden Vorbereitungen der ukrainischen Streitkräfte auf ein Vorrücken in Richtung des Atomkraftwerks Saporischschja erkannt. Dazu seien rund um die gleichnamige Stadt rund 7000 ukrainische Soldaten zusammengezogen worden, zitierte die Agentur Tass Wladimir Rogow, einen Vertreter der Besatzungsverwaltung.

Das AKW Saporischschja ist die größte Atomanlage Europas. Die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) bemüht sich seit Monaten, um das Werk eine Schutzzone ohne Kämpfe einzurichten. Die Verhandlungen mit Russland über die Einrichtung einer Schutzzone um das Akw gestalten sich nach den Worten von IAEA-Chef Rafael Rafael Grossi "sehr kompliziert". Die Gespräche verliefen äußerst zäh und dauerten "schrecklich lange", sagte Grossi am Rande der UN-Klimakonferenz in Scharm el-Scheich der Nachrichtenagentur AFP. Dennoch könne er es sich nicht erlauben, "die Geduld zu verlieren".

Ukraine lehnt russisches Gesprächsangebot ab

Die ukrainische Führung hat ein weiteres Gesprächsangebot Moskaus als "neue Nebelkerze" zurückgewiesen. "Russische Beamte beginnen, Gesprächsangebote immer dann zu unterbreiten, wenn die russischen Truppen Niederlagen auf dem Schlachtfeld erleiden", schrieb Außenamtssprecher Oleh Nikolenko auf Facebook. Mit dem neuen Dialogangebot spiele Russland lediglich auf Zeit, um seine Truppen neu zu sortieren und zu verstärken, und um dann "neue Wellen der Aggression" einzuleiten.

In Moskau hatte Russlands Außenamtssprecherin Maria Sacharowa am Mittwoch die Bereitschaft Russlands zu Gesprächen "auf Grundlage der aktuellen Realitäten" verkündet. Damit war der aktuelle Stand an den Fronten gemeint. "Wir sind weiterhin zu Gesprächen bereit, wir haben sie nie verweigert", sagte sie. Die Führung in Kiew hat bereits mehrere Verhandlungsangebote aus Moskau abgelehnt. Sie fordert als Vorbedingung den kompletten Rückzug russischer Truppen aus der Ukraine, auch von der Halbinsel Krim.

USA: Mehr als 100.000 Opfer auf beiden Seiten

Im russischen Angriffskrieg in der Ukraine verzeichnen beiden Seiten nach Erkenntnissen des US-Militärs hohe Opferzahlen. "Wir haben es mit weit über 100.000 getöteten und verwundeten russischen Soldaten zu tun. Das Gleiche gilt wahrscheinlich auch für die ukrainische Seite. Es gibt viel menschliches Leid", sagte US-Generalstabschef Mark Milley in einer Rede in New York. Zudem seien seit Beginn der russischen Invasion im Februar bis zu 40.000 ukrainische Zivilisten in dem Konflikt getötet worden. 

Die Zahlen sind die konkretesten, die die USA bislang veröffentlicht haben. Sie können aber nicht unabhängig überprüft werden. 

Milley warb zudem für Gespräche, um den Krieg zu beenden. Möglicherweise könnten weder die Ukraine noch Russland militärisch siegen, sagte der US-General. Es sei daher erforderlich, sich "nach anderen Mitteln" umzusehen.

Start der EU-Ausbildungsmission rückt näher

Die 27 Staaten der Europäischen Union wollen Anfang nächster Woche den Start der Ausbildungsmission für ukrainische Streitkräfte beschließen. Der Ausschuss der ständigen Vertreter der EU-Länder in Brüssel billigte einstimmig entsprechende Planungen, wie mehrere Diplomaten der Deutschen Presse-Agentur bestätigten. Der formelle Beschluss für den Start des Einsatzes soll demnach bei einem für Montag angesetzten Außenministertreffen in Brüssel gefasst werden. Die Pläne sehen vor, dass zunächst etwa 15.000 ukrainische Soldaten in EU-Ländern ausgebildet werden.

Deutschland hat nach Angaben des Bundesverteidigungsministeriums angeboten, eine Gefechtsausbildung für Kompanien sowie Taktikübungen für einen Brigadestab und die untergeordneten Bataillonsstäbe zu organisieren. Zudem soll es ein Training für Trainer, Sanitätsausbildungen und Waffensystemschulungen in enger Kooperation mit der Industrie geben. Insgesamt könnte in Deutschland in den kommenden Monaten eine Brigade mit bis zu 5000 ukrainischen Soldatinnen und Soldaten trainiert werden.

EU unterstützt Republik Moldau finanziell

Die EU hat der von einer Energiekrise geplagten Republik Moldau 250 Millionen Euro Unterstützung zugesagt. 100 Millionen Euro seien Zuschüsse, zu denen weitere 100 Millionen als Kredit hinzukämen, sagte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bei einem Besuch der ehemaligen Sowjetrepublik. Weitere 50 Millionen Euro seien für die bedürftigsten Einwohner gedacht.

In Moldau leben rund 2,6 Millionen Menschen. Das Land ist seit Juni EU-Beitrittskandidat, liegt zwischen Rumänien und der Ukraine und ist bei Erdgas vollständig auf russische Lieferungen angewiesen. Russland hat seine Energielieferungen in den vergangenen Wochen um die Hälfte gekürzt und damit eine beispiellose Energiekrise in Moldau ausgelöst. Die Energiepreise für Privathaushalte haben sich binnen eines Jahres versechsfacht.

Russische Reisepässe aus besetzten Gebieten nicht EU-tauglich

Die EU wird russische Reisepässe aus den besetzten Gebieten der Ukraine nicht anerkennen. Darauf verständigten sich Unterhändler der EU-Staaten und des Europaparlaments in Brüssel. Gleiches soll für Reisedokumente gelten, die in den abtrünnigen Teilrepubliken Südossetien und Abchasien in Georgien ausgestellt worden sind, teilte der Rat der EU-Staaten mit. Russland hatte das Gebiet Saporischschja gemeinsam mit den Regionen Cherson, Donezk und Luhansk im September nach Scheinreferenden für annektiert erklärt.

Putin reist nicht zum G20-Gipfel nach Indonesien

Der russische Präsident Wladimir Putin wird nicht am G20-Gipfel auf Bali teilnehmen, bei dem auch der Ukraine-Krieg zentrales Thema sein soll. Stattdessen reise Außenminister Sergej Lawrow zu dem Treffen der Industrienationen, teilte die indonesische Regierung mit. Putin hatte seine persönliche Teilnahme an dem Gipfel Mitte dieses Monats bis zuletzt offen gelassen.

Russland Präsident Wladimir Putin Fahne
Der russische Präsident Wladimir Putin schickt seinen Außenminister zum G20-GipfelBild: TASS/dpa/picture alliance

Indonesiens Präsident Joko Widodo will auf dem Gipfel eine Friedensinitiative für die Ukraine anstoßen. Sein Land werde alle Teilnehmer dazu einladen, "sich zusammenzusetzen und sich in einen konstruktiven Dialog zu begeben", hatte er Ende Oktober erklärt. 

wa/mak/se/sti/qu (dpa, afp, rtr, ap)

Dieser Artikel wird am Tag seines Erscheinens fortlaufend aktualisiert. Meldungen aus den Kampfgebieten lassen sich nicht unabhängig überprüfen.