Aktuell: "Diese Opfer könnten wir sein"
10. Mai 2022
Das Wichtigste in Kürze:
- Ministerin Baerbock tief bewegt bei Besuch in Butscha
- Bas fordert mehr Tempo bei EU-Beitritt der Ukraine
- Verstärkte Kämpfe im Osten und Süden der Ukraine
- UN gehen von mehr toten Zivilisten aus, als bislang angegeben
Außenministerin Annalena Baerbock ist als erstes deutsches Kabinettsmitglied seit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine in die Hauptstadt Kiew gereist. Die Grünen-Politikerin machte sich zunächst im Vorort Butscha ein Bild von der Lage. Dort waren nach dem Abzug der russischen Truppen mehr als 400 Leichen gefunden worden - teils mit auf den Rücken gebundenen Händen. Baerbock wurde von einem Mitarbeiter der deutschen Botschaft an dessen Haus empfangen.
Die Ministerin wurde von der ukrainischen Generalstaatsanwältin Iryna Wenediktowa begleitet. Baerbock sicherte ihr Unterstützung bei der Aufklärung von Kriegsverbrechen während des russischen Angriffskrieges zu. "Wir sind es diesen Opfern schuldig, dass wir hier nicht nur gedenken, sondern dass wir die Täter zur Verantwortung bringen und ziehen."
"Ich bin heute wirklich froh, nicht nur als Außenministerin, sondern als Freundin hier in Kiew zu sein und vor allen Dingen in einem freien Kiew zu sein", sagte Baerbock nach ihrem Treffen mit dem ukrainischen Außenminister Dmytro Kuleba. "Und um es ehrlich zu sagen, in den finsteren Tagen nach dem 24. Februar hatte ich Zweifel, ob ich diesen Satz so bald sagen würde."
Deutsche Botschaft in Kiew wiedereröffnet
Im Lauf ihres Besuchs eröffnete Baerbock die deutsche Botschaft und hisste vor dem Gebäude in Kiew die deutsche Flagge. Die Botschaft war unmittelbar nach Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine geschlossen worden. Ähnlich verhielten sich damals auch andere EU-Staaten, von denen mehrere jedoch inzwischen wieder mit ihren diplomatischen Vertretungen nach Kiew zurückgekehrt sind. Die wiedereröffnete deutsche Vertretung wird zunächst einen "eingeschränkten Betrieb" fahren und in einer "Minimalpräsenz" arbeiten.
Abhängigkeit von russischen Energieträgern "für immer" beenden
Baerbock traf in Kiew auch Präsident Wolodymyr Selenskyj. Der 44-Jährige dankte Baerbock dafür, dass sich Deutschland solidarisch mit dem ukrainischen Volk zeige .Baerbock bekräftigte vor Journalisten, Deutschland stehe "unverrückbar an der Seite der Ukrainer und des freien Kiews". Zugleich werde Deutschland mit aller Konsequenz seine Abhängigkeit von russischen Energieträgern auf null reduzieren, "und zwar für immer".
Mit Blick auf den weiteren Kurs der Ukraine stellte die Ministerin dem Land eine Vollmitgliedschaft in der Europäischen Union in Aussicht. Auf dem Weg dahin könne es aber "keine Abkürzung" geben, sagte Baerbock.
Bas will "echte" EU-Perspektive für Kiew
Bundestagspräsidentin Bärbel Bas hat sich nach ihrer Rückkehr aus Kiew für einen baldigen EU-Beitritt der Ukraine ausgesprochen. Anders als Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hoffe sie, "dass es nicht Jahrzehnte braucht", sagte Bas im Zweiten Deutschen Fernsehen (ZDF). Verfahren und Zeitpläne müssten so beschleunigt werden, dass eine "echte Perspektive" daraus werde.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj erklärte in einer neuen Videobotschaft am Montagabend: "Heute haben wir auf unserem Weg in die Europäische Union einen weiteren Schritt gemacht, einen wichtigen und nicht nur formalen." Sein Land habe die zweite Hälfte der Antworten auf den Fragebogen übergeben, den jeder Staat für den Mitgliedsantrag ausfüllen muss. "Das dauert üblicherweise Monate, aber wir haben das innerhalb von Wochen erledigt."
Die Europäische Kommission will im Juni beurteilen, ob die Ukraine offizieller EU-Beitrittskandidat werden kann. Bei einer positiven Entscheidung bräuchte es noch die Zustimmung aller Mitgliedsstaaten. Erst dann könnten Beitrittsverhandlungen beginnen.
Rheinmetall: Erste Marder-Panzer bald fertig
Der deutsche Rüstungskonzern Rheinmetall will die ersten instandgesetzten Schützenpanzer vom Typ Marder in drei Wochen liefern können. "Wir warten auf die endgültige Entscheidung der (Bundes-)Regierung. Aber es gibt derzeit genügend Länder, die diese Fahrzeuge haben wollen, nicht nur die Ukraine", sagte Rheinmetall-Vorstandschef Armin Papperger der "Süddeutschen Zeitung".
Der Bundestag hatte die Lieferung auch schwerer Waffen an die Ukraine Ende April genehmigt. Rheinmetall verfügt über Bestände gebrauchter Panzer, die für den Einsatz wieder aufbereitet werden können.
Schwerer Beschuss des Stahlwerks in Mariupol
Im Osten und im Süden der Ukraine haben sich die Kämpfe nach ukrainischen Angaben verstärkt. Im Donbass bereiteten sich die russischen Truppen weiterhin auf Vorstöße in den Regionen Lyman und Sewerodonezk vor, teilte der ukrainische Generalstab mit.
Auch die Kämpfe um das Werk Asovstal in Mariupol gehen weiter - nach ukrainischen Angaben mit schwerem Beschuss durch russische Truppen. In der Nacht sei das Gelände aus der Luft angegriffen worden, sagte der Vizekommandeur des Asow-Regiments, Swjatoslaw Palamar, der Zeitung "Ukrajinska Prawda". Es gebe viele Schwerverletzte.
Auf dem großräumigen Stahlwerksgelände sollen nach ukrainischen Angaben immer noch etwa 100 Zivilisten ausharren. Außerdem sollen sich weiterhin viele ukrainische Kämpfer dort verschanzt haben. Nach russischen Angaben soll es sich um etwa 2000 ukrainische Kämpfer und ausländische Söldner handeln.
Pentagon: Putin liegt hinter seinem Zeitplan
Die russische Luftwaffe hat nach Darstellung des ukrainischen Militärs mehrere Hyperschallraketen vom Typ Kinschal auf die Hafenstadt Odessa gefeuert. Dabei seien mehrere "touristische Objekte" getroffen und mindestens fünf Gebäude zerstört worden, berichtete die "Ukrajinska Prawda". Auch ein Einkaufszentrum sei beschädigt, meldete eine regionale Online-Seite. Die Bewohner wurden aufgerufen, Schutzräume aufzusuchen.
Dagegen hieß es aus dem US-Verteidigungsministerium in Washington, es lägen keine Hinweise auf den Einsatz von Hyperschallraketen vor. Er könne den Einsatz solcher Waffen in Odessa nicht bestätigen, sagte ein hochrangiger Ministeriumsmitarbeiter in einer Telefonschalte mit Journalisten. Luftangriffe auf Odessa hätten in den vergangenen Tagen aber zugenommen.
Weiter führte der Ministeriumsmitarbeiter aus, seit Kriegsbeginn hätten die russischen Streitkräfte in zehn bis zwölf Fällen Hyperschallwaffen eingesetzt. Er betonte, weder im Süden noch im Donbass im Osten der Ukraine habe der russische Präsident Wladimir Putin bislang seine wichtigsten Ziele erreicht. Nach US-Einschätzung liege Putin "zwei Wochen oder vielleicht sogar mehr" hinter seinem Zeitplan.
"Katastrophale Zahlen" aus Cherson
Die Großstadt Cherson hat nach ukrainischen Angaben seit Kriegsbeginn fast die Hälfte ihrer Bevölkerung von einst fast 300.000 Menschen verloren. "Nach vorläufigen Schätzungen haben allein seit März 45 Prozent der Bevölkerung Cherson verlassen", sagte der Chef der Gebietsverwaltung, Hennadij Lahuta. Aus dem gesamten Gebiet sei nach der russischen Okkupation jeder Fünfte geflohen. "Das sind katastrophale Zahlen."
Tote durch Angriffe und fehlende medizinische Versorgung
In der Ukraine sind UN-Beobachtern zufolge weitaus mehr Zivilisten getötet worden als die von ihnen offiziell angegebene Zahl von 3381. Allein in der Hafenstadt Mariupol seien schätzungsweise Tausende Menschen ums Leben gekommen, teilt Matilda Bogner mit, die Leiterin des UN-Einsatzes zur Beobachtung der Menschenrechtslage in der Ukraine. Nicht alle Opfer seien in der offiziellen Totenzahl enthalten. Man habe an Schätzungen gearbeitet, könne derzeit aber nur sagen, dass es Tausende mehr Opfer gebe als die bislang genannte bestätigte Totenzahl. "Das große schwarze Loch ist wirklich Mariupol, wo es für uns schwierig war, vollständig darauf zuzugreifen und vollständig bestätigte Informationen zu erhalten."
Die Weltgesundheitsorganisation WHO schätzt zudem, dass mindestens 3000 Menschen gestorben sind, weil sie keinen Zugang zur Behandlung ihrer chronischen Krankheiten hatten. 40 Prozent der Haushalte hätten mindestens ein Mitglied, das eine dauerhafte Behandlung benötige, teilt der Europa-Chef der WHO, Hans Kluge mit, und nennt als Beispiel Aids und Krebs. Weil solche Patienten nicht mehr ausreichend versorgt werden könnten, seien sie ihren Erkrankungen erlegen.
Acht Millionen Binnenflüchtlinge
Innerhalb der Ukraine sind seit Beginn der russischen Invasion am 24. Februar rund acht Millionen Menschen vertrieben worden. Zu dem Ergebnis kommt die Migrationsagentur der Vereinten Nationen (UN). 44 Prozent der Binnenflüchtlinge zögen wegen des Ausmaßes der Krise für die Menschen eine weitere Umsiedlung in Betracht. Das zeige eine Umfrage der UN-Organisation. Vor Beginn des Krieges lebten rund 44 Millionen Menschen in der Ukraine. Millionen sind ins Ausland geflohen.
uh/rb/bri/sti/wa/fw (dpa, afp, rtr)
Dieser Artikel wird am Tag seines Erscheinens fortlaufend aktualisiert. Meldungen aus den Kampfgebieten lassen sich nicht unabhängig überprüfen.